Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite
Zwölfter Gesang.

Als wir jezo die Felsen der Skülla und wilden Charübdis 260
Flohn, da erreichten wir bald des Gottes herliche Insel,
Wo die Heerden des hochhinwandelnden Hälios weiden,
Viele trefliche Schaf' und viel breitstirniges Hornvieh.
Als ich noch auf dem Meer' im schwarzen Schiffe heranfuhr;
Hört' ich schon das Gebrüll der eingeschloßenen Rinder, 265
Und der Schafe Geblöck. Da erwacht' in meinen Gedanken
Jenes thäbaiischen Sehers, des blinden Teiresias Warnung,
Und der aiaiischen Kirkä, die mir aufs strengste befohlen,
Ja die Insel zu meiden der menschenerfreuenden Sonne.
Und mit trauriger Seele begann ich zu meinen Gefährten: 270

Höret meine Worte, ihr theuren Genoßen im Unglück,
Daß ich euch sage, was mir Teiresias Seele geweißagt,
Und die aiaiische Kirkä, die mir aufs strengste befohlen,
Ja die Insel zu meiden der menschenerfreuenden Sonne;
Denn dort würden wir uns den schrecklichsten Jammer bereiten. 275
Auf denn, Geliebteste, lenkt das Schiff bei der Insel vorüber!

Also sprach ich, und jenen brach das Herz vor Betrübniß.
Aber Eurülochos gab mir diese zürnende Antwort:

Grausamer Mann, du strozest von Kraft, und nimmer ermüden
Deine Glieder; sie sind aus hartem Stale gebildet! 280
Daß du den müden Freunden, von Arbeit und Schlummer entkräftet,
Nicht ans Land zu steigen erlaubst, damit wir uns wieder
Auf der umfloßenen Insel mit lieblichen Speisen erquicken;
Sondern befiehlst, daß wir die Insel meiden, und blindlings
Durch die dickeste Nacht im düstern Meere verirren! 285
Und die Stürme der Nacht sind fürchterlich; Schiffe zertrümmert
Ihre Gewalt! Wo entflöhn wir dem schrecklichen Todesverhängniß,

Zwoͤlfter Geſang.

Als wir jezo die Felſen der Skuͤlla und wilden Charuͤbdis 260
Flohn, da erreichten wir bald des Gottes herliche Inſel,
Wo die Heerden des hochhinwandelnden Haͤlios weiden,
Viele trefliche Schaf' und viel breitſtirniges Hornvieh.
Als ich noch auf dem Meer' im ſchwarzen Schiffe heranfuhr;
Hoͤrt' ich ſchon das Gebruͤll der eingeſchloßenen Rinder, 265
Und der Schafe Gebloͤck. Da erwacht' in meinen Gedanken
Jenes thaͤbaiiſchen Sehers, des blinden Teireſias Warnung,
Und der aiaiiſchen Kirkaͤ, die mir aufs ſtrengſte befohlen,
Ja die Inſel zu meiden der menſchenerfreuenden Sonne.
Und mit trauriger Seele begann ich zu meinen Gefaͤhrten: 270

Hoͤret meine Worte, ihr theuren Genoßen im Ungluͤck,
Daß ich euch ſage, was mir Teireſias Seele geweißagt,
Und die aiaiiſche Kirkaͤ, die mir aufs ſtrengſte befohlen,
Ja die Inſel zu meiden der menſchenerfreuenden Sonne;
Denn dort wuͤrden wir uns den ſchrecklichſten Jammer bereiten. 275
Auf denn, Geliebteſte, lenkt das Schiff bei der Inſel voruͤber!

Alſo ſprach ich, und jenen brach das Herz vor Betruͤbniß.
Aber Euruͤlochos gab mir dieſe zuͤrnende Antwort:

Grauſamer Mann, du ſtrozeſt von Kraft, und nimmer ermuͤden
Deine Glieder; ſie ſind aus hartem Stale gebildet! 280
Daß du den muͤden Freunden, von Arbeit und Schlummer entkraͤftet,
Nicht ans Land zu ſteigen erlaubſt, damit wir uns wieder
Auf der umfloßenen Inſel mit lieblichen Speiſen erquicken;
Sondern befiehlſt, daß wir die Inſel meiden, und blindlings
Durch die dickeſte Nacht im duͤſtern Meere verirren! 285
Und die Stuͤrme der Nacht ſind fuͤrchterlich; Schiffe zertruͤmmert
Ihre Gewalt! Wo entfloͤhn wir dem ſchrecklichen Todesverhaͤngniß,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0245" n="239"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Zwo&#x0364;lfter Ge&#x017F;ang.</hi> </fw><lb/>
        <p>Als wir jezo die Fel&#x017F;en der Sku&#x0364;lla und wilden Charu&#x0364;bdis <note place="right">260</note><lb/>
Flohn, da erreichten wir bald des Gottes herliche In&#x017F;el,<lb/>
Wo die Heerden des hochhinwandelnden Ha&#x0364;lios weiden,<lb/>
Viele trefliche Schaf' und viel breit&#x017F;tirniges Hornvieh.<lb/>
Als ich noch auf dem Meer' im &#x017F;chwarzen Schiffe heranfuhr;<lb/>
Ho&#x0364;rt' ich &#x017F;chon das Gebru&#x0364;ll der einge&#x017F;chloßenen Rinder, <note place="right">265</note><lb/>
Und der Schafe Geblo&#x0364;ck. Da erwacht' in meinen Gedanken<lb/>
Jenes tha&#x0364;baii&#x017F;chen Sehers, des blinden Teire&#x017F;ias Warnung,<lb/>
Und der aiaii&#x017F;chen Kirka&#x0364;, die mir aufs &#x017F;treng&#x017F;te befohlen,<lb/>
Ja die In&#x017F;el zu meiden der men&#x017F;chenerfreuenden Sonne.<lb/>
Und mit trauriger Seele begann ich zu meinen Gefa&#x0364;hrten: <note place="right">270</note></p><lb/>
        <p>Ho&#x0364;ret meine Worte, ihr theuren Genoßen im Unglu&#x0364;ck,<lb/>
Daß ich euch &#x017F;age, was mir Teire&#x017F;ias Seele geweißagt,<lb/>
Und die aiaii&#x017F;che Kirka&#x0364;, die mir aufs &#x017F;treng&#x017F;te befohlen,<lb/>
Ja die In&#x017F;el zu meiden der men&#x017F;chenerfreuenden Sonne;<lb/>
Denn dort wu&#x0364;rden wir uns den &#x017F;chrecklich&#x017F;ten Jammer bereiten. <note place="right">275</note><lb/>
Auf denn, Geliebte&#x017F;te, lenkt das Schiff bei der In&#x017F;el voru&#x0364;ber!</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach ich, und jenen brach das Herz vor Betru&#x0364;bniß.<lb/>
Aber Euru&#x0364;lochos gab mir die&#x017F;e zu&#x0364;rnende Antwort:</p><lb/>
        <p>Grau&#x017F;amer Mann, du &#x017F;troze&#x017F;t von Kraft, und nimmer ermu&#x0364;den<lb/>
Deine Glieder; &#x017F;ie &#x017F;ind aus hartem Stale gebildet! <note place="right">280</note><lb/>
Daß du den mu&#x0364;den Freunden, von Arbeit und Schlummer entkra&#x0364;ftet,<lb/>
Nicht ans Land zu &#x017F;teigen erlaub&#x017F;t, damit wir uns wieder<lb/>
Auf der umfloßenen In&#x017F;el mit lieblichen Spei&#x017F;en erquicken;<lb/>
Sondern befiehl&#x017F;t, daß wir die In&#x017F;el meiden, und blindlings<lb/>
Durch die dicke&#x017F;te Nacht im du&#x0364;&#x017F;tern Meere verirren! <note place="right">285</note><lb/>
Und die Stu&#x0364;rme der Nacht &#x017F;ind fu&#x0364;rchterlich; Schiffe zertru&#x0364;mmert<lb/>
Ihre Gewalt! Wo entflo&#x0364;hn wir dem &#x017F;chrecklichen Todesverha&#x0364;ngniß,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[239/0245] Zwoͤlfter Geſang. Als wir jezo die Felſen der Skuͤlla und wilden Charuͤbdis Flohn, da erreichten wir bald des Gottes herliche Inſel, Wo die Heerden des hochhinwandelnden Haͤlios weiden, Viele trefliche Schaf' und viel breitſtirniges Hornvieh. Als ich noch auf dem Meer' im ſchwarzen Schiffe heranfuhr; Hoͤrt' ich ſchon das Gebruͤll der eingeſchloßenen Rinder, Und der Schafe Gebloͤck. Da erwacht' in meinen Gedanken Jenes thaͤbaiiſchen Sehers, des blinden Teireſias Warnung, Und der aiaiiſchen Kirkaͤ, die mir aufs ſtrengſte befohlen, Ja die Inſel zu meiden der menſchenerfreuenden Sonne. Und mit trauriger Seele begann ich zu meinen Gefaͤhrten: 260 265 270 Hoͤret meine Worte, ihr theuren Genoßen im Ungluͤck, Daß ich euch ſage, was mir Teireſias Seele geweißagt, Und die aiaiiſche Kirkaͤ, die mir aufs ſtrengſte befohlen, Ja die Inſel zu meiden der menſchenerfreuenden Sonne; Denn dort wuͤrden wir uns den ſchrecklichſten Jammer bereiten. Auf denn, Geliebteſte, lenkt das Schiff bei der Inſel voruͤber! 275 Alſo ſprach ich, und jenen brach das Herz vor Betruͤbniß. Aber Euruͤlochos gab mir dieſe zuͤrnende Antwort: Grauſamer Mann, du ſtrozeſt von Kraft, und nimmer ermuͤden Deine Glieder; ſie ſind aus hartem Stale gebildet! Daß du den muͤden Freunden, von Arbeit und Schlummer entkraͤftet, Nicht ans Land zu ſteigen erlaubſt, damit wir uns wieder Auf der umfloßenen Inſel mit lieblichen Speiſen erquicken; Sondern befiehlſt, daß wir die Inſel meiden, und blindlings Durch die dickeſte Nacht im duͤſtern Meere verirren! Und die Stuͤrme der Nacht ſind fuͤrchterlich; Schiffe zertruͤmmert Ihre Gewalt! Wo entfloͤhn wir dem ſchrecklichen Todesverhaͤngniß, 280 285

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/245
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/245>, abgerufen am 23.11.2024.