Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Neunzehnter Gesang.
Fühlt' im innersten Herzen den Gram der weinenden Gattin; 210
Dennoch standen die Augen wie Horn ihm, oder wie Eisen,
Unbewegt in den Wimpern; denn klüglich hemmt' er die Thräne.
Und nachdem sie ihr Herz mit vielen Thränen erleichtert,
Da begann sie von neuem, und gab ihm dieses zur Antwort:

Nun ich muß dich doch ein wenig prüfen, o Fremdling, 215
Ob du meinen Gemahl auch würklich, wie du erzählest,
Samt den edlen Genoßen in deinem Hause bewirtet.
Sage mir denn, mit welcherlei Kleidern war er bekleidet?
Und wie sah er aus? Auch nenne mir seine Begleiter.

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odüßeus: 220
Schwer, o Königin, ist es, nach seiner langen Entfernung
Ihn so genau zu beschreiben; wir sind schon im zwanzigsten Jahre,
Seit er von dannen zog aus meiner heimischen Insel.
Dennoch will ich dir sagen, so viel mein Geist sich erinnert.
Einen zottichten schönen gefutterten Mantel von Purpur 225
Trug der edle Odüßeus, mit einer zwiefachgeschloßnen
Goldenen Spange daran, und vorn gezieret mit Stickwerk.
Zwischen den Vorderklauen des gierigblickenden Hundes
Zappelt' ein fleckichtes Rehchen; und alle sahn mit Bewundrung,
Wie, aus Golde gebildet, der Hund an der Gurgel das Rehkalb 230
Hielt, und das ringende Reh zu entfliehn mit den Füßen sich sträubte.
Unter dem Mantel bemerkt' ich den wunderköstlichen Leibrock:
Zart und weich, wie die Schale von einer getrockneten Zwiebel,
War das feine Geweb', und glänzendweiß, wie die Sonne.
Wahrlich viele Weiber betrachteten ihn mit Entzücken. 235
Eines sag' ich dir noch, und du nim solches zu Herzen!

A a

Neunzehnter Geſang.
Fuͤhlt' im innerſten Herzen den Gram der weinenden Gattin; 210
Dennoch ſtanden die Augen wie Horn ihm, oder wie Eiſen,
Unbewegt in den Wimpern; denn kluͤglich hemmt' er die Thraͤne.
Und nachdem ſie ihr Herz mit vielen Thraͤnen erleichtert,
Da begann ſie von neuem, und gab ihm dieſes zur Antwort:

Nun ich muß dich doch ein wenig pruͤfen, o Fremdling, 215
Ob du meinen Gemahl auch wuͤrklich, wie du erzaͤhleſt,
Samt den edlen Genoßen in deinem Hauſe bewirtet.
Sage mir denn, mit welcherlei Kleidern war er bekleidet?
Und wie ſah er aus? Auch nenne mir ſeine Begleiter.

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus: 220
Schwer, o Koͤnigin, iſt es, nach ſeiner langen Entfernung
Ihn ſo genau zu beſchreiben; wir ſind ſchon im zwanzigſten Jahre,
Seit er von dannen zog aus meiner heimiſchen Inſel.
Dennoch will ich dir ſagen, ſo viel mein Geiſt ſich erinnert.
Einen zottichten ſchoͤnen gefutterten Mantel von Purpur 225
Trug der edle Oduͤßeus, mit einer zwiefachgeſchloßnen
Goldenen Spange daran, und vorn gezieret mit Stickwerk.
Zwiſchen den Vorderklauen des gierigblickenden Hundes
Zappelt' ein fleckichtes Rehchen; und alle ſahn mit Bewundrung,
Wie, aus Golde gebildet, der Hund an der Gurgel das Rehkalb 230
Hielt, und das ringende Reh zu entfliehn mit den Fuͤßen ſich ſtraͤubte.
Unter dem Mantel bemerkt' ich den wunderkoͤſtlichen Leibrock:
Zart und weich, wie die Schale von einer getrockneten Zwiebel,
War das feine Geweb', und glaͤnzendweiß, wie die Sonne.
Wahrlich viele Weiber betrachteten ihn mit Entzuͤcken. 235
Eines ſag' ich dir noch, und du nim ſolches zu Herzen!

A a
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0375" n="369"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Neunzehnter Ge&#x017F;ang.</hi></fw><lb/>
Fu&#x0364;hlt' im inner&#x017F;ten Herzen den Gram der weinenden Gattin; <note place="right">210</note><lb/>
Dennoch &#x017F;tanden die Augen wie Horn ihm, oder wie Ei&#x017F;en,<lb/>
Unbewegt in den Wimpern; denn klu&#x0364;glich hemmt' er die Thra&#x0364;ne.<lb/>
Und nachdem &#x017F;ie ihr Herz mit vielen Thra&#x0364;nen erleichtert,<lb/>
Da begann &#x017F;ie von neuem, und gab ihm die&#x017F;es zur Antwort:</p><lb/>
        <p>Nun ich muß dich doch ein wenig pru&#x0364;fen, o Fremdling, <note place="right">215</note><lb/>
Ob du meinen Gemahl auch wu&#x0364;rklich, wie du erza&#x0364;hle&#x017F;t,<lb/>
Samt den edlen Genoßen in deinem Hau&#x017F;e bewirtet.<lb/>
Sage mir denn, mit welcherlei Kleidern war er bekleidet?<lb/>
Und wie &#x017F;ah er aus? Auch nenne mir &#x017F;eine Begleiter.</p><lb/>
        <p>Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odu&#x0364;ßeus: <note place="right">220</note><lb/>
Schwer, o Ko&#x0364;nigin, i&#x017F;t es, nach &#x017F;einer langen Entfernung<lb/>
Ihn &#x017F;o genau zu be&#x017F;chreiben; wir &#x017F;ind &#x017F;chon im zwanzig&#x017F;ten Jahre,<lb/>
Seit er von dannen zog aus meiner heimi&#x017F;chen In&#x017F;el.<lb/>
Dennoch will ich dir &#x017F;agen, &#x017F;o viel mein Gei&#x017F;t &#x017F;ich erinnert.<lb/>
Einen zottichten &#x017F;cho&#x0364;nen gefutterten Mantel von Purpur <note place="right">225</note><lb/>
Trug der edle Odu&#x0364;ßeus, mit einer zwiefachge&#x017F;chloßnen<lb/>
Goldenen Spange daran, und vorn gezieret mit Stickwerk.<lb/>
Zwi&#x017F;chen den Vorderklauen des gierigblickenden Hundes<lb/>
Zappelt' ein fleckichtes Rehchen; und alle &#x017F;ahn mit Bewundrung,<lb/>
Wie, aus Golde gebildet, der Hund an der Gurgel das Rehkalb <note place="right">230</note><lb/>
Hielt, und das ringende Reh zu entfliehn mit den Fu&#x0364;ßen &#x017F;ich &#x017F;tra&#x0364;ubte.<lb/>
Unter dem Mantel bemerkt' ich den wunderko&#x0364;&#x017F;tlichen Leibrock:<lb/>
Zart und weich, wie die Schale von einer getrockneten Zwiebel,<lb/>
War das feine Geweb', und gla&#x0364;nzendweiß, wie die Sonne.<lb/>
Wahrlich viele Weiber betrachteten ihn mit Entzu&#x0364;cken. <note place="right">235</note><lb/>
Eines &#x017F;ag' ich dir noch, und du nim &#x017F;olches zu Herzen!<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">A a</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[369/0375] Neunzehnter Geſang. Fuͤhlt' im innerſten Herzen den Gram der weinenden Gattin; Dennoch ſtanden die Augen wie Horn ihm, oder wie Eiſen, Unbewegt in den Wimpern; denn kluͤglich hemmt' er die Thraͤne. Und nachdem ſie ihr Herz mit vielen Thraͤnen erleichtert, Da begann ſie von neuem, und gab ihm dieſes zur Antwort: 210 Nun ich muß dich doch ein wenig pruͤfen, o Fremdling, Ob du meinen Gemahl auch wuͤrklich, wie du erzaͤhleſt, Samt den edlen Genoßen in deinem Hauſe bewirtet. Sage mir denn, mit welcherlei Kleidern war er bekleidet? Und wie ſah er aus? Auch nenne mir ſeine Begleiter. 215 Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus: Schwer, o Koͤnigin, iſt es, nach ſeiner langen Entfernung Ihn ſo genau zu beſchreiben; wir ſind ſchon im zwanzigſten Jahre, Seit er von dannen zog aus meiner heimiſchen Inſel. Dennoch will ich dir ſagen, ſo viel mein Geiſt ſich erinnert. Einen zottichten ſchoͤnen gefutterten Mantel von Purpur Trug der edle Oduͤßeus, mit einer zwiefachgeſchloßnen Goldenen Spange daran, und vorn gezieret mit Stickwerk. Zwiſchen den Vorderklauen des gierigblickenden Hundes Zappelt' ein fleckichtes Rehchen; und alle ſahn mit Bewundrung, Wie, aus Golde gebildet, der Hund an der Gurgel das Rehkalb Hielt, und das ringende Reh zu entfliehn mit den Fuͤßen ſich ſtraͤubte. Unter dem Mantel bemerkt' ich den wunderkoͤſtlichen Leibrock: Zart und weich, wie die Schale von einer getrockneten Zwiebel, War das feine Geweb', und glaͤnzendweiß, wie die Sonne. Wahrlich viele Weiber betrachteten ihn mit Entzuͤcken. Eines ſag' ich dir noch, und du nim ſolches zu Herzen! 220 225 230 235 A a

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/375
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/375>, abgerufen am 25.11.2024.