Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.
Odüßee. In dem Saale zu wirken, und auf die Mägde zu sehen.Aber kömmt nun die Nacht, da alle Sterblichen ausruhn; 515 Lieg' ich schlaflos im Bett', und tausend nagende Sorgen Wühlen mit neuer Wut um meine zerrißene Seele. Wie wenn die Nachtigall, Pandareos liebliche Tochter, Ihren schönen Gesang im beginnenden Frühling' erneuert; Sizend unter dem Laube der dichtumschattenden Bäume, 520 Rollt sie von Tönen zu Tönen die schnelle melodische Stimme, Ihren geliebten Sohn, den sie selber ermordet, die Thörin! Ihren Itülos klagend, den Sohn des Königes Zäthos: V. 523. Also wendet sich auch mein Geist bald hiehin bald dorthin: Ob ich noch weile beim Sohn, und alle Güter bewahre, 525 Meine Hab', und die Mägd', und die hohe prächtige Wohnung, Scheuend das Lager des Ehegemahls und die Stimme des Volkes; Oder jezt von den Freiern im Hause den tapfersten Jüngling, Welcher das meiste geschenkt, zu meinem Bräutigam wähle. Als mein Sohn noch ein Kind war und schwaches Verstandes, da durft' ich 530 Ihm zu Liebe nicht wählen, noch diese Wohnung verlaßen; Nun da er größer ist, und des Jünglings Alter erreicht hat, Wünscht er selber, ich möge nur bald aus dem Hause hinweggehn, Zürnend wegen der Habe, so ihm die Achaier verschwelgen. Aber höre den Traum, und sage mir seine Bedeutung. 535 V. 523. Pandareos hatte drei Töchter: Aädon, Kleothära und Merope.
Aädon ward mit Zäthos, Amsions Bruder, vermählt, und bekam nur einen Sohn, Namens Itülos. Eifersüchtig auf Amsions Gemahlin Niobe, die viele Kinder hatte, beschloß sie, deren ältesten Sohn, der mit Itülos in Einem Bette schlief, zu ermorden. Sie traf ihren Sohn, rief die Götter um Mitleid an, und ward in eine Nachtigall verwandelt. Oduͤßee. In dem Saale zu wirken, und auf die Maͤgde zu ſehen.Aber koͤmmt nun die Nacht, da alle Sterblichen ausruhn; 515 Lieg' ich ſchlaflos im Bett', und tauſend nagende Sorgen Wuͤhlen mit neuer Wut um meine zerrißene Seele. Wie wenn die Nachtigall, Pandareos liebliche Tochter, Ihren ſchoͤnen Geſang im beginnenden Fruͤhling' erneuert; Sizend unter dem Laube der dichtumſchattenden Baͤume, 520 Rollt ſie von Toͤnen zu Toͤnen die ſchnelle melodiſche Stimme, Ihren geliebten Sohn, den ſie ſelber ermordet, die Thoͤrin! Ihren Ituͤlos klagend, den Sohn des Koͤniges Zaͤthos: V. 523. Alſo wendet ſich auch mein Geiſt bald hiehin bald dorthin: Ob ich noch weile beim Sohn, und alle Guͤter bewahre, 525 Meine Hab', und die Maͤgd', und die hohe praͤchtige Wohnung, Scheuend das Lager des Ehegemahls und die Stimme des Volkes; Oder jezt von den Freiern im Hauſe den tapferſten Juͤngling, Welcher das meiſte geſchenkt, zu meinem Braͤutigam waͤhle. Als mein Sohn noch ein Kind war und ſchwaches Verſtandes, da durft' ich 530 Ihm zu Liebe nicht waͤhlen, noch dieſe Wohnung verlaßen; Nun da er groͤßer iſt, und des Juͤnglings Alter erreicht hat, Wuͤnſcht er ſelber, ich moͤge nur bald aus dem Hauſe hinweggehn, Zuͤrnend wegen der Habe, ſo ihm die Achaier verſchwelgen. Aber hoͤre den Traum, und ſage mir ſeine Bedeutung. 535 V. 523. Pandareos hatte drei Toͤchter: Aaͤdon, Kleothaͤra und Merope.
Aaͤdon ward mit Zaͤthos, Amſions Bruder, vermaͤhlt, und bekam nur einen Sohn, Namens Ituͤlos. Eiferſuͤchtig auf Amſions Gemahlin Niobe, die viele Kinder hatte, beſchloß ſie, deren aͤlteſten Sohn, der mit Ituͤlos in Einem Bette ſchlief, zu ermorden. Sie traf ihren Sohn, rief die Goͤtter um Mitleid an, und ward in eine Nachtigall verwandelt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0386" n="380"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Oduͤßee.</hi></fw><lb/> In dem Saale zu wirken, und auf die Maͤgde zu ſehen.<lb/> Aber koͤmmt nun die Nacht, da alle Sterblichen ausruhn; <note place="right">515</note><lb/> Lieg' ich ſchlaflos im Bett', und tauſend nagende Sorgen<lb/> Wuͤhlen mit neuer Wut um meine zerrißene Seele.<lb/> Wie wenn die Nachtigall, Pandareos liebliche Tochter,<lb/> Ihren ſchoͤnen Geſang im beginnenden Fruͤhling' erneuert;<lb/> Sizend unter dem Laube der dichtumſchattenden Baͤume, <note place="right">520</note><lb/> Rollt ſie von Toͤnen zu Toͤnen die ſchnelle melodiſche Stimme,<lb/> Ihren geliebten Sohn, den ſie ſelber ermordet, die Thoͤrin!<lb/> Ihren Ituͤlos klagend, den Sohn des Koͤniges Zaͤthos: <note place="foot" n="V. 523."> Pandareos hatte drei Toͤchter: Aaͤdon, Kleothaͤra und Merope.<lb/> Aaͤdon ward mit Zaͤthos, Amſions Bruder, vermaͤhlt, und bekam nur einen<lb/> Sohn, Namens Ituͤlos. Eiferſuͤchtig auf Amſions Gemahlin Niobe, die viele<lb/> Kinder hatte, beſchloß ſie, deren aͤlteſten Sohn, der mit Ituͤlos in Einem Bette<lb/> ſchlief, zu ermorden. Sie traf ihren Sohn, rief die Goͤtter um Mitleid an,<lb/> und ward in eine Nachtigall verwandelt.</note><lb/> Alſo wendet ſich auch mein Geiſt bald hiehin bald dorthin:<lb/> Ob ich noch weile beim Sohn, und alle Guͤter bewahre, <note place="right">525</note><lb/> Meine Hab', und die Maͤgd', und die hohe praͤchtige Wohnung,<lb/> Scheuend das Lager des Ehegemahls und die Stimme des Volkes;<lb/> Oder jezt von den Freiern im Hauſe den tapferſten Juͤngling,<lb/> Welcher das meiſte geſchenkt, zu meinem Braͤutigam waͤhle.<lb/> Als mein Sohn noch ein Kind war und ſchwaches Verſtandes, da durft' ich <note place="right">530</note><lb/> Ihm zu Liebe nicht waͤhlen, noch dieſe Wohnung verlaßen;<lb/> Nun da er groͤßer iſt, und des Juͤnglings Alter erreicht hat,<lb/> Wuͤnſcht er ſelber, ich moͤge nur bald aus dem Hauſe hinweggehn,<lb/> Zuͤrnend wegen der Habe, ſo ihm die Achaier verſchwelgen.<lb/> Aber hoͤre den Traum, und ſage mir ſeine Bedeutung. <note place="right">535</note><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [380/0386]
Oduͤßee.
In dem Saale zu wirken, und auf die Maͤgde zu ſehen.
Aber koͤmmt nun die Nacht, da alle Sterblichen ausruhn;
Lieg' ich ſchlaflos im Bett', und tauſend nagende Sorgen
Wuͤhlen mit neuer Wut um meine zerrißene Seele.
Wie wenn die Nachtigall, Pandareos liebliche Tochter,
Ihren ſchoͤnen Geſang im beginnenden Fruͤhling' erneuert;
Sizend unter dem Laube der dichtumſchattenden Baͤume,
Rollt ſie von Toͤnen zu Toͤnen die ſchnelle melodiſche Stimme,
Ihren geliebten Sohn, den ſie ſelber ermordet, die Thoͤrin!
Ihren Ituͤlos klagend, den Sohn des Koͤniges Zaͤthos: V. 523.
Alſo wendet ſich auch mein Geiſt bald hiehin bald dorthin:
Ob ich noch weile beim Sohn, und alle Guͤter bewahre,
Meine Hab', und die Maͤgd', und die hohe praͤchtige Wohnung,
Scheuend das Lager des Ehegemahls und die Stimme des Volkes;
Oder jezt von den Freiern im Hauſe den tapferſten Juͤngling,
Welcher das meiſte geſchenkt, zu meinem Braͤutigam waͤhle.
Als mein Sohn noch ein Kind war und ſchwaches Verſtandes, da durft' ich
Ihm zu Liebe nicht waͤhlen, noch dieſe Wohnung verlaßen;
Nun da er groͤßer iſt, und des Juͤnglings Alter erreicht hat,
Wuͤnſcht er ſelber, ich moͤge nur bald aus dem Hauſe hinweggehn,
Zuͤrnend wegen der Habe, ſo ihm die Achaier verſchwelgen.
Aber hoͤre den Traum, und ſage mir ſeine Bedeutung.
515
520
525
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V. 523. Pandareos hatte drei Toͤchter: Aaͤdon, Kleothaͤra und Merope.
Aaͤdon ward mit Zaͤthos, Amſions Bruder, vermaͤhlt, und bekam nur einen
Sohn, Namens Ituͤlos. Eiferſuͤchtig auf Amſions Gemahlin Niobe, die viele
Kinder hatte, beſchloß ſie, deren aͤlteſten Sohn, der mit Ituͤlos in Einem Bette
ſchlief, zu ermorden. Sie traf ihren Sohn, rief die Goͤtter um Mitleid an,
und ward in eine Nachtigall verwandelt.
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| Zitationshilfe: | Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/386>, abgerufen am 24.11.2024. |
