Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.Zweiundzwanzigster Gesang. Mich hat niemand gelehrt; ein Gott hat die mancherlei LiederMir in die Seele gepflanzt! Ich verdiene, wie einem der Götter, Dir zu singen! Drum haue mir nicht mit dem Schwerte das Haupt ab! Siehe dein lieber Sohn Tälemachos kann es bezeugen, 350 Daß ich nie freiwillig und wegen schnödes Gewinstes Kam in deinen Palast, den Freiern am Mahle zu singen; Sondern es führten mich viele und mächtige hier mit Gewalt her! Also sprach er. Ihn hörte Tälemachos heilige Stärke, Halt, verwunde nicht diesen; er ist unschuldig, mein Vater! Also sprach er; ihn hörte der gute verständige Medon: Lieber, da bin ich selbst! O schone, und bitte den Vater, Lächelnd erwiederte drauf der erfindungsreiche Odüßeus: Zweiundzwanzigſter Geſang. Mich hat niemand gelehrt; ein Gott hat die mancherlei LiederMir in die Seele gepflanzt! Ich verdiene, wie einem der Goͤtter, Dir zu ſingen! Drum haue mir nicht mit dem Schwerte das Haupt ab! Siehe dein lieber Sohn Taͤlemachos kann es bezeugen, 350 Daß ich nie freiwillig und wegen ſchnoͤdes Gewinſtes Kam in deinen Palaſt, den Freiern am Mahle zu ſingen; Sondern es fuͤhrten mich viele und maͤchtige hier mit Gewalt her! Alſo ſprach er. Ihn hoͤrte Taͤlemachos heilige Staͤrke, Halt, verwunde nicht dieſen; er iſt unſchuldig, mein Vater! Alſo ſprach er; ihn hoͤrte der gute verſtaͤndige Medon: Lieber, da bin ich ſelbſt! O ſchone, und bitte den Vater, Laͤchelnd erwiederte drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus: <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0435" n="429"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiundzwanzigſter Geſang.</hi></fw><lb/> Mich hat niemand gelehrt; ein Gott hat die mancherlei Lieder<lb/> Mir in die Seele gepflanzt! Ich verdiene, wie einem der Goͤtter,<lb/> Dir zu ſingen! Drum haue mir nicht mit dem Schwerte das Haupt ab!<lb/> Siehe dein lieber Sohn Taͤlemachos kann es bezeugen, <note place="right">350</note><lb/> Daß ich nie freiwillig und wegen ſchnoͤdes Gewinſtes<lb/> Kam in deinen Palaſt, den Freiern am Mahle zu ſingen;<lb/> Sondern es fuͤhrten mich viele und maͤchtige hier mit Gewalt her!</p><lb/> <p>Alſo ſprach er. Ihn hoͤrte Taͤlemachos heilige Staͤrke,<lb/> Eilte hinzu, und ſprach zu ſeinem Vater Oduͤßeus: <note place="right">355</note></p><lb/> <p>Halt, verwunde nicht dieſen; er iſt unſchuldig, mein Vater!<lb/> Laß uns auch Medon verſchonen, den Herold, welcher mich immer<lb/> Sorgſam in unſerem Hauſe gepflegt hat, als ich ein Kind war;<lb/> Wo ihn Filoͤtios nicht ſchon toͤdtete, oder Eumaios,<lb/> Oder du ſelber ihn trafſt, den Saal mit Rache durchſtuͤrmend! <note place="right">360</note></p><lb/> <p>Alſo ſprach er; ihn hoͤrte der gute verſtaͤndige Medon:<lb/> Unter dem Throne ſich ſchmiegend vermied er das ſchwarze Verhaͤngniß,<lb/> Eingehuͤllt in die Haut des friſchgeſchlachteten Rindes.<lb/> Eilend kroch er hervor, und huͤllte ſich ſchnell aus der Kuhhaut,<lb/> Sprang zu Taͤlemachos hin, umſchlang die Kniee des Juͤnglings, <note place="right">365</note><lb/> Jammerte laut um Erbarmen, und ſprach die gefluͤgelten Worte:</p><lb/> <p>Lieber, da bin ich ſelbſt! O ſchone, und bitte den Vater,<lb/> Daß mich der Wuͤtende nicht mit ſcharfem Erze vertilge,<lb/> Zuͤrnend wegen der Freier, die alle Guͤter im Hauſe<lb/> Ihm verſchwelgten, und dich mit thoͤrichtem Herzen entehrten! <note place="right">370</note></p><lb/> <p>Laͤchelnd erwiederte drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus:<lb/> Sei getroſt, denn dieſer iſt dein Beſchirmer und Retter:<lb/> Daß du im Herzen erkennſt, und andern Menſchen verkuͤndeſt,<lb/> Wie viel beßer es ſei, gerecht als boͤſe zu handeln.<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [429/0435]
Zweiundzwanzigſter Geſang.
Mich hat niemand gelehrt; ein Gott hat die mancherlei Lieder
Mir in die Seele gepflanzt! Ich verdiene, wie einem der Goͤtter,
Dir zu ſingen! Drum haue mir nicht mit dem Schwerte das Haupt ab!
Siehe dein lieber Sohn Taͤlemachos kann es bezeugen,
Daß ich nie freiwillig und wegen ſchnoͤdes Gewinſtes
Kam in deinen Palaſt, den Freiern am Mahle zu ſingen;
Sondern es fuͤhrten mich viele und maͤchtige hier mit Gewalt her!
350
Alſo ſprach er. Ihn hoͤrte Taͤlemachos heilige Staͤrke,
Eilte hinzu, und ſprach zu ſeinem Vater Oduͤßeus:
355
Halt, verwunde nicht dieſen; er iſt unſchuldig, mein Vater!
Laß uns auch Medon verſchonen, den Herold, welcher mich immer
Sorgſam in unſerem Hauſe gepflegt hat, als ich ein Kind war;
Wo ihn Filoͤtios nicht ſchon toͤdtete, oder Eumaios,
Oder du ſelber ihn trafſt, den Saal mit Rache durchſtuͤrmend!
360
Alſo ſprach er; ihn hoͤrte der gute verſtaͤndige Medon:
Unter dem Throne ſich ſchmiegend vermied er das ſchwarze Verhaͤngniß,
Eingehuͤllt in die Haut des friſchgeſchlachteten Rindes.
Eilend kroch er hervor, und huͤllte ſich ſchnell aus der Kuhhaut,
Sprang zu Taͤlemachos hin, umſchlang die Kniee des Juͤnglings,
Jammerte laut um Erbarmen, und ſprach die gefluͤgelten Worte:
365
Lieber, da bin ich ſelbſt! O ſchone, und bitte den Vater,
Daß mich der Wuͤtende nicht mit ſcharfem Erze vertilge,
Zuͤrnend wegen der Freier, die alle Guͤter im Hauſe
Ihm verſchwelgten, und dich mit thoͤrichtem Herzen entehrten!
370
Laͤchelnd erwiederte drauf der erfindungsreiche Oduͤßeus:
Sei getroſt, denn dieſer iſt dein Beſchirmer und Retter:
Daß du im Herzen erkennſt, und andern Menſchen verkuͤndeſt,
Wie viel beßer es ſei, gerecht als boͤſe zu handeln.
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