Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_154.001 pwa_154.010 pwa_154.001 pwa_154.010 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0172" n="154"/><lb n="pwa_154.001"/> so fern Poesie, als man unter Poesie versificierte Worte versteht, in <lb n="pwa_154.002"/> so fern aber Prosa, als alle sprachliche Darstellung, die das Wahre <lb n="pwa_154.003"/> ausserhalb des Schönen und des Guten zeigt, nur Prosa ist. Aber <lb n="pwa_154.004"/> auch die Einbildungskraft darf niemals bei einer poetischen Production <lb n="pwa_154.005"/> ganz leer ausgehn; auch sie muss an der Schöpfung des Dichters, <lb n="pwa_154.006"/> an der Rückschöpfung durch den Leser ihren Antheil haben, mag <lb n="pwa_154.007"/> dieser Antheil auch nur gering sein; fehlen und ausbleiben darf sie <lb n="pwa_154.008"/> nicht: denn es giebt keine <foreign xml:lang="grc">ποίησις</foreign>, keine Schöpfung ohne sie, ohne <lb n="pwa_154.009"/> die schöpfende Kraft der Einbildung.</p> <p><lb n="pwa_154.010"/> Deshalb erscheint nach dieser Seite hin wieder eine andre <lb n="pwa_154.011"/> Art lehrhafter Poesie verwerflich, der <hi rendition="#b">Spruch,</hi> die <hi rendition="#b">Sentenz,</hi> die <lb n="pwa_154.012"/> <hi rendition="#b">Gnome,</hi> verwerflich, sobald die Vorschrift und die Erfahrung, deren <lb n="pwa_154.013"/> Mittheilung es gilt, in kalter, dürrer Abstractheit aufgefasst und vorgetragen <lb n="pwa_154.014"/> wird, wie das bei den Sentenzen der Fall zu sein pflegt. <lb n="pwa_154.015"/> Es mag eine solche Lehre ihren grossen Werth haben für das sittliche <lb n="pwa_154.016"/> Gefühl des Menschen, aber die Einbildung, die producierende und <lb n="pwa_154.017"/> reproducierende Grundkraft lässt sie unberührt. Solchen Gnomen ist <lb n="pwa_154.018"/> die metrische Form nur in so fern zuzugestehn, als sie vielleicht die <lb n="pwa_154.019"/> Darstellung und Aufbewahrung erleichtert, aber nicht als äusserer <lb n="pwa_154.020"/> Abdruck und Ausdruck inneren poetischen Gehaltes: denn der ist hier <lb n="pwa_154.021"/> gar nicht vorhanden. Die ersten Anfänge dieser wie überhaupt aller <lb n="pwa_154.022"/> Arten von didactischer Poesie, erlaubter und unerlaubter, finden sich <lb n="pwa_154.023"/> bei den Griechen in Hesiods Werken und Tagen und bei den Hebräern <lb n="pwa_154.024"/> in den Sprüchen Salomons. Nach Hesiods Vorgange war auch späterhin <lb n="pwa_154.025"/> der Hexameter eine gewohnte metrische Form der griechischen Gnomen. <lb n="pwa_154.026"/> Daneben gab es aber noch zwei andere, eine noch minder passliche <lb n="pwa_154.027"/> und eine passlichere. Eine minder passliche ergab sich durch die <lb n="pwa_154.028"/> Seitenwendung, welche bei Solon und seit ihm die Elegie nahm. Bis <lb n="pwa_154.029"/> auf Solon war dieselbe immer nur episch-lyrisch gewesen; bei ihm <lb n="pwa_154.030"/> und denjenigen, die seiner Art sich anschlossen, verlor sie den epischen <lb n="pwa_154.031"/> Character, ja auch den lyrischen, und ward rein didactisch, sie ward <lb n="pwa_154.032"/> Form dessen, was man insbesondere <hi rendition="#b">gnomische Poesie</hi> nennt. Freilich <lb n="pwa_154.033"/> war diese Wendung nicht unvorbereitet: der sittliche Ernst, welcher <lb n="pwa_154.034"/> der ältesten Elegie eigen war, konnte und musste darauf hinführen; <lb n="pwa_154.035"/> gleichwohl lag diese Richtung ausserhalb des Bereiches der Poesie: <lb n="pwa_154.036"/> denn wer wird das Poesie nennen mögen, wenn Philosophen die <lb n="pwa_154.037"/> abstracten Lehrsätze ihrer Schule bald vereinzelt, bald in einem grösseren <lb n="pwa_154.038"/> systematischen Zusammenhang, bald in einzelnen Distichen, bald <lb n="pwa_154.039"/> in einer Reihe von Distichen, also allerdings in der äusserlichen Art <lb n="pwa_154.040"/> und Weise einer Elegie vortragen? Dergleichen gehörte nur noch <lb n="pwa_154.041"/> durch die Form mit zur Poesie, und auch die Form war unpasslich </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [154/0172]
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so fern Poesie, als man unter Poesie versificierte Worte versteht, in pwa_154.002
so fern aber Prosa, als alle sprachliche Darstellung, die das Wahre pwa_154.003
ausserhalb des Schönen und des Guten zeigt, nur Prosa ist. Aber pwa_154.004
auch die Einbildungskraft darf niemals bei einer poetischen Production pwa_154.005
ganz leer ausgehn; auch sie muss an der Schöpfung des Dichters, pwa_154.006
an der Rückschöpfung durch den Leser ihren Antheil haben, mag pwa_154.007
dieser Antheil auch nur gering sein; fehlen und ausbleiben darf sie pwa_154.008
nicht: denn es giebt keine ποίησις, keine Schöpfung ohne sie, ohne pwa_154.009
die schöpfende Kraft der Einbildung.
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Deshalb erscheint nach dieser Seite hin wieder eine andre pwa_154.011
Art lehrhafter Poesie verwerflich, der Spruch, die Sentenz, die pwa_154.012
Gnome, verwerflich, sobald die Vorschrift und die Erfahrung, deren pwa_154.013
Mittheilung es gilt, in kalter, dürrer Abstractheit aufgefasst und vorgetragen pwa_154.014
wird, wie das bei den Sentenzen der Fall zu sein pflegt. pwa_154.015
Es mag eine solche Lehre ihren grossen Werth haben für das sittliche pwa_154.016
Gefühl des Menschen, aber die Einbildung, die producierende und pwa_154.017
reproducierende Grundkraft lässt sie unberührt. Solchen Gnomen ist pwa_154.018
die metrische Form nur in so fern zuzugestehn, als sie vielleicht die pwa_154.019
Darstellung und Aufbewahrung erleichtert, aber nicht als äusserer pwa_154.020
Abdruck und Ausdruck inneren poetischen Gehaltes: denn der ist hier pwa_154.021
gar nicht vorhanden. Die ersten Anfänge dieser wie überhaupt aller pwa_154.022
Arten von didactischer Poesie, erlaubter und unerlaubter, finden sich pwa_154.023
bei den Griechen in Hesiods Werken und Tagen und bei den Hebräern pwa_154.024
in den Sprüchen Salomons. Nach Hesiods Vorgange war auch späterhin pwa_154.025
der Hexameter eine gewohnte metrische Form der griechischen Gnomen. pwa_154.026
Daneben gab es aber noch zwei andere, eine noch minder passliche pwa_154.027
und eine passlichere. Eine minder passliche ergab sich durch die pwa_154.028
Seitenwendung, welche bei Solon und seit ihm die Elegie nahm. Bis pwa_154.029
auf Solon war dieselbe immer nur episch-lyrisch gewesen; bei ihm pwa_154.030
und denjenigen, die seiner Art sich anschlossen, verlor sie den epischen pwa_154.031
Character, ja auch den lyrischen, und ward rein didactisch, sie ward pwa_154.032
Form dessen, was man insbesondere gnomische Poesie nennt. Freilich pwa_154.033
war diese Wendung nicht unvorbereitet: der sittliche Ernst, welcher pwa_154.034
der ältesten Elegie eigen war, konnte und musste darauf hinführen; pwa_154.035
gleichwohl lag diese Richtung ausserhalb des Bereiches der Poesie: pwa_154.036
denn wer wird das Poesie nennen mögen, wenn Philosophen die pwa_154.037
abstracten Lehrsätze ihrer Schule bald vereinzelt, bald in einem grösseren pwa_154.038
systematischen Zusammenhang, bald in einzelnen Distichen, bald pwa_154.039
in einer Reihe von Distichen, also allerdings in der äusserlichen Art pwa_154.040
und Weise einer Elegie vortragen? Dergleichen gehörte nur noch pwa_154.041
durch die Form mit zur Poesie, und auch die Form war unpasslich
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