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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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aber die Beispiele sind doch gewiss selten, wo Gemüth und Einbildung pwa_169.002
sich nicht in fortdauernder Abhängigkeit von den lehrhaften Tendenzen pwa_169.003
des Verstandes befänden oder sich letztere nicht wenigstens pwa_169.004
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Geschichte und durch ihre geistigen Anlagen bevorzugte Völker, bei pwa_169.006
denen die Lyrik zu ihrer letzten vollkommenen Ausbildung hat gedeihen pwa_169.007
können, sind im Alterthume die Griechen, in neuerer Zeit die pwa_169.008
Deutschen. An beiden Orten haben die rechten Präcedentien den pwa_169.009
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Epik, auf die lyrische Epik die epische Lyrik, auf die epische Lyrik pwa_169.011
die lyrische Lyrik gekommen. An beiden Orten ist in dem allmählichen, pwa_169.012
nirgend springenden Entwickelungsgange eines gesunden Organismus pwa_169.013
die Nation erst nach und nach zu einer Vereinigung von Individuen pwa_169.014
geworden, und die Poesie dem entsprechend aus dem ungeschiedenen pwa_169.015
Gemeingute Aller in das Sondereigenthum des Einzelnen pwa_169.016
übergegangen. Bei den Deutschen musste auf die Erzählung der pwa_169.017
Thaten Anderer erst die objective Entwickelung der Zustände Anderer pwa_169.018
folgen, eh der Dichter dazu kam, auch die seinigen zu entwickeln, pwa_169.019
seine eigenen, individuellen, subjectiven: die reine Lyrik bei Walther pwa_169.020
von der Vogelweide gegenüber der reinen Epik der alten Heldenlieder pwa_169.021
ward erst dadurch möglich, dass zwischen beide die lyrische Epik pwa_169.022
Dietmars von Aist und die epische Lyrik Reinmars des Alten trat.

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So auch bei den Griechen, und hier vertheilen sich auf höchst pwa_169.024
interessante Weise die einzelnen Arten und Uebergangsstufen nicht pwa_169.025
bloss in verschiedene Zeiten, sondern auch noch unter verschiedene pwa_169.026
Völkerschaften. Auf die epische Poesie, die, wenn schon bei den pwa_169.027
Ioniern besonders gepflegt, doch allgemein hellenisches Gesammtgut pwa_169.028
war, folgte als wichtigste und als kenntlichste Uebergangsstufe die pwa_169.029
epische Lyrik, als Elegie bei den Ioniern, als Chorgesang bei den pwa_169.030
Doriern, beide in ihren Anfängen und in den Fortschritten ihrer Entwickelung pwa_169.031
einander gleichzeitig, und die eine wie die andre zugleich pwa_169.032
national und individuell. Dann erst kommt rein lyrisch, frei von pwa_169.033
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Aeolier. Bei ihr zeigt sich bis in die metrische Form, bis in den pwa_169.035
musicalischen Vortrag hinein die volle Freiheit und Selbständigkeit des pwa_169.036
dichtenden Subjects. Hier ist der Dichter nicht mehr an die auf der pwa_169.037
alten Nationalität beruhenden Anforderungen des Chors gebunden: wie pwa_169.038
sein Gedicht nur ihn angeht, nur ihm dient und angehört, seinen pwa_169.039
Interessen, seiner Freude und Trauer, so singt er es auch allein. Die pwa_169.040
antistrophische Gliederung, wie sie dem Chorgesang eigenthümlich war, pwa_169.041
wird aufgegeben: entweder braucht man unstrophische Formen, wie

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Gemeingute Aller in das Sondereigenthum des Einzelnen pwa_169.016
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Thaten Anderer erst die objective Entwickelung der Zustände Anderer pwa_169.018
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ward erst dadurch möglich, dass zwischen beide die lyrische Epik pwa_169.022
Dietmars von Aist und die epische Lyrik Reinmars des Alten trat.

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So auch bei den Griechen, und hier vertheilen sich auf höchst pwa_169.024
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/187>, abgerufen am 21.11.2024.