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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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der die Alten nichts wissen. Aber es bedarf solcher Vergleichungen pwa_182.002
mit den Mustern der Antike nicht, um einzusehen, worin hier der pwa_182.003
Schillerische Chor fehlt. Es ist eben zuvörderst kein Chor, sondern pwa_182.004
es sind Chöre; es theilt sich nicht Ein Chor bloss durch Gesang und pwa_182.005
Tanz strophisch und antistrophisch in zwei Hälften, welche dann die pwa_182.006
Epode wieder vereinigt, sondern es stehn von vorn herein und durchweg pwa_182.007
zwei Chöre einander gegenüber, deren jeder für einen der zwei pwa_182.008
feindlichen Brüder entschieden und thätig Partei nimmt, zwei Chöre, pwa_182.009
die gleich den Herren, deren Gefolge sie bilden, einander bis zum pwa_182.010
Handgemenge feindlich sind. Das aber erregt doch wohl das gerechteste pwa_182.011
Bedenken, dass dieselben Chöre, die in so blinder Parteiung pwa_182.012
den Leidenschaften ihrer Herren dienen, dennoch wieder das Recht pwa_182.013
ansprechen, alle Augenblicke mit sittlicher Betrachtung, mit Urtheil pwa_182.014
und Rath aus der Handlung zurückzutreten; es ist ein Widerspruch pwa_182.015
in sich selbst, wenn dieselben Chöre, die sich eben noch mit gezückten pwa_182.016
Schwertern gegenüber gestanden, nun mit einem Male sich wieder pwa_182.017
vereinigen und sich einmüthig und einträchtig über denselben Zwiespalt pwa_182.018
reflectierend erheben, den sie eben erst haben blutig ausfechten pwa_182.019
wollen. Schiller hat diesen Wechsel von Zwiespältigkeit und von pwa_182.020
Einigung der Chöre in seinem Vorwort zur Braut von Messina folgender pwa_182.021
Massen gesucht kurz zu rechtfertigen: "Ich habe den Chor zwar pwa_182.022
in zwei Theile getrennt und im Streit mit sich dargestellt: aber diess pwa_182.023
ist nur dann der Fall, wo er als wirkliche Person und als blinde pwa_182.024
Menge mithandelt. Als Chor und als ideale Person ist er immer eins pwa_182.025
mit sich selbst." Indessen der Fehler und die künstlerische Unmöglichkeit pwa_182.026
ist eben, dass die gleichen Persönlichkeiten jetzt eine blosse pwa_182.027
blinde Menge ausmachen und dann wieder mit gotterleuchtetem Auge pwa_182.028
auf die Handlung hinabschauen sollen.

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Sodann Platen. Der Graf Platen hat seinen beiden antik gemessenen pwa_182.030
Comödien, der Verhängnissvollen Gabel und dem Romantischen pwa_182.031
Oedipus, auch nach Weise der antiken Comödie einen Chor geben pwa_182.032
wollen. Indessen nur in der minder gelungenen von beiden, in derjenigen, pwa_182.033
welche sonst eigentlich missrathen ist, im Oedipus, hat der pwa_182.034
Chor ungefähr die antike Stellung gegenüber der Handlung auf der pwa_182.035
Bühne und dem Volke vor derselben. Es ist ein Chor von Haidschnucken, pwa_182.036
von wilden Schafen, wie sie in der Lüneburger Haide pwa_182.037
umherziehen, die zuweilen in die Handlung drein reden, ohne jedoch pwa_182.038
sonst Antheil an ihr zu haben, ausserdem aber noch in Parabasen aus pwa_182.039
der Handlung hinaus reden zum Publicum. Aber wie gesagt, diess pwa_182.040
ganze Drama ist von Anfang bis zu Ende eine so verfehlte Arbeit, pwa_182.041
dass man aus ihm nichts abnehmen kann über die Bedeutung, welche

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der die Alten nichts wissen. Aber es bedarf solcher Vergleichungen pwa_182.002
mit den Mustern der Antike nicht, um einzusehen, worin hier der pwa_182.003
Schillerische Chor fehlt. Es ist eben zuvörderst kein Chor, sondern pwa_182.004
es sind Chöre; es theilt sich nicht Ein Chor bloss durch Gesang und pwa_182.005
Tanz strophisch und antistrophisch in zwei Hälften, welche dann die pwa_182.006
Epode wieder vereinigt, sondern es stehn von vorn herein und durchweg pwa_182.007
zwei Chöre einander gegenüber, deren jeder für einen der zwei pwa_182.008
feindlichen Brüder entschieden und thätig Partei nimmt, zwei Chöre, pwa_182.009
die gleich den Herren, deren Gefolge sie bilden, einander bis zum pwa_182.010
Handgemenge feindlich sind. Das aber erregt doch wohl das gerechteste pwa_182.011
Bedenken, dass dieselben Chöre, die in so blinder Parteiung pwa_182.012
den Leidenschaften ihrer Herren dienen, dennoch wieder das Recht pwa_182.013
ansprechen, alle Augenblicke mit sittlicher Betrachtung, mit Urtheil pwa_182.014
und Rath aus der Handlung zurückzutreten; es ist ein Widerspruch pwa_182.015
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Schwertern gegenüber gestanden, nun mit einem Male sich wieder pwa_182.017
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reflectierend erheben, den sie eben erst haben blutig ausfechten pwa_182.019
wollen. Schiller hat diesen Wechsel von Zwiespältigkeit und von pwa_182.020
Einigung der Chöre in seinem Vorwort zur Braut von Messina folgender pwa_182.021
Massen gesucht kurz zu rechtfertigen: „Ich habe den Chor zwar pwa_182.022
in zwei Theile getrennt und im Streit mit sich dargestellt: aber diess pwa_182.023
ist nur dann der Fall, wo er als wirkliche Person und als blinde pwa_182.024
Menge mithandelt. Als Chor und als ideale Person ist er immer eins pwa_182.025
mit sich selbst.“ Indessen der Fehler und die künstlerische Unmöglichkeit pwa_182.026
ist eben, dass die gleichen Persönlichkeiten jetzt eine blosse pwa_182.027
blinde Menge ausmachen und dann wieder mit gotterleuchtetem Auge pwa_182.028
auf die Handlung hinabschauen sollen.

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Sodann Platen. Der Graf Platen hat seinen beiden antik gemessenen pwa_182.030
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welche sonst eigentlich missrathen ist, im Oedipus, hat der pwa_182.034
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umherziehen, die zuweilen in die Handlung drein reden, ohne jedoch pwa_182.038
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/200>, abgerufen am 21.11.2024.