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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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baut ein Haus ohne Grund, das einstürzen muss, so kunstreich es pwa_184.002
sonst gebaut und geschmückt sein mag.

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Es sind nunmehr die allgemeinen Gesetze der dramatischen Kunst pwa_184.004
abzuhandeln, die Anforderungen, die nach Recht und Uebung an jedes pwa_184.005
dramatische Gedicht gestellt, die auch von jedem guten Drama erfüllt pwa_184.006
werden.

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Die erste und hauptsächlichste Anforderung, die der Einheit, theilt pwa_184.008
das Drama mit jedweder andern Dichtung: jede Dichtung muss, um pwa_184.009
schön heissen zu können, ein organisches Ganzes von mannigfachen pwa_184.010
Theilen sein, die jeder für sich unselbständig, und einer dem andern pwa_184.011
unentbehrlich, sich gegenseitig auf das innigste durchwachsen; ein pwa_184.012
geistiger Organismus, dem nichts mangelt, an dem nichts zu viel ist. pwa_184.013
Das gilt für alle Gedichte. Die Sache des Dramas aber insbesondre pwa_184.014
ist eben drama, ist Handlung, d. h. es muss eine durch die bestimmteste pwa_184.015
Causalität zusammengehaltene und verschlungene Kette von Begebenheiten pwa_184.016
bilden. Mithin ist hier vorzüglich und vor allen Dingen pwa_184.017
Einheit der Handlung zu fordern: sie muss abgeschlossen und vollständig pwa_184.018
sein; es darf in der Kette der Begebenheiten kein Glied fehlen, pwa_184.019
aber auch keines mehr sein, als nöthig ist: sonst würden uns pwa_184.020
Wirkungen vor Augen treten, deren Ursachen uns fremd sind, und pwa_184.021
Ursachen, denen eine Wirkung gebricht. Vielmehr muss von Anfang pwa_184.022
an Alles in stätigem Verlauf auf das Ende hin arbeiten, und das Ende pwa_184.023
muss schon im Anfange begründet sein. Ein Drama darf nicht einer pwa_184.024
ausgeführten Epopöie gleichen, die einen ganzen Sagenkreis in all pwa_184.025
seinen einzelnen Gruppen theils durch fortschreitende Erzählung, theils pwa_184.026
mit Einschaltung von Episoden erschöpft, sondern einem epischen Liede pwa_184.027
nach der alterthümlichsten Weise. So besteht auch die Einheit der pwa_184.028
dramatischen Handlung darin, dass Eine Hauptperson es sei, welche pwa_184.029
die Handlung trage und weiter führe, in welcher Thun und Leiden, pwa_184.030
die Idee des Ganzen sich vollende; dass Eine Hauptbegebenheit sei, pwa_184.031
auf welche Alles abzwecke und hinziele; und dass die Handlung in pwa_184.032
einem ununterbrochenen Verlaufe von causaler Entwickelung diesem pwa_184.033
Zweck und Ziel entgegen gehe.

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Bis so weit gelten die gleichen Anforderungen an das Drama wie pwa_184.035
an das altepische Lied: dann aber sondern sie sich auf demselben pwa_184.036
Puncte, auf dem überhaupt der Unterschied zwischen Epos und Drama pwa_184.037
liegt. Das Epos erzählt eben, d. h. es zählt in causaler Entwickelung pwa_184.038
her, was an und mit seiner Hauptperson und den übrigen sich begiebt; pwa_184.039
das Drama giebt statt der Erzählung der Begebenheiten die Begebenheiten pwa_184.040
selbst und macht sie mittelst der dialogischen Form so gänzlich pwa_184.041
zum Werk und zur That der auftretenden Personen, dass aus ihrer

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baut ein Haus ohne Grund, das einstürzen muss, so kunstreich es pwa_184.002
sonst gebaut und geschmückt sein mag.

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Es sind nunmehr die allgemeinen Gesetze der dramatischen Kunst pwa_184.004
abzuhandeln, die Anforderungen, die nach Recht und Uebung an jedes pwa_184.005
dramatische Gedicht gestellt, die auch von jedem guten Drama erfüllt pwa_184.006
werden.

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Die erste und hauptsächlichste Anforderung, die der Einheit, theilt pwa_184.008
das Drama mit jedweder andern Dichtung: jede Dichtung muss, um pwa_184.009
schön heissen zu können, ein organisches Ganzes von mannigfachen pwa_184.010
Theilen sein, die jeder für sich unselbständig, und einer dem andern pwa_184.011
unentbehrlich, sich gegenseitig auf das innigste durchwachsen; ein pwa_184.012
geistiger Organismus, dem nichts mangelt, an dem nichts zu viel ist. pwa_184.013
Das gilt für alle Gedichte. Die Sache des Dramas aber insbesondre pwa_184.014
ist eben δρᾶμα, ist Handlung, d. h. es muss eine durch die bestimmteste pwa_184.015
Causalität zusammengehaltene und verschlungene Kette von Begebenheiten pwa_184.016
bilden. Mithin ist hier vorzüglich und vor allen Dingen pwa_184.017
Einheit der Handlung zu fordern: sie muss abgeschlossen und vollständig pwa_184.018
sein; es darf in der Kette der Begebenheiten kein Glied fehlen, pwa_184.019
aber auch keines mehr sein, als nöthig ist: sonst würden uns pwa_184.020
Wirkungen vor Augen treten, deren Ursachen uns fremd sind, und pwa_184.021
Ursachen, denen eine Wirkung gebricht. Vielmehr muss von Anfang pwa_184.022
an Alles in stätigem Verlauf auf das Ende hin arbeiten, und das Ende pwa_184.023
muss schon im Anfange begründet sein. Ein Drama darf nicht einer pwa_184.024
ausgeführten Epopöie gleichen, die einen ganzen Sagenkreis in all pwa_184.025
seinen einzelnen Gruppen theils durch fortschreitende Erzählung, theils pwa_184.026
mit Einschaltung von Episoden erschöpft, sondern einem epischen Liede pwa_184.027
nach der alterthümlichsten Weise. So besteht auch die Einheit der pwa_184.028
dramatischen Handlung darin, dass Eine Hauptperson es sei, welche pwa_184.029
die Handlung trage und weiter führe, in welcher Thun und Leiden, pwa_184.030
die Idee des Ganzen sich vollende; dass Eine Hauptbegebenheit sei, pwa_184.031
auf welche Alles abzwecke und hinziele; und dass die Handlung in pwa_184.032
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Zweck und Ziel entgegen gehe.

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Bis so weit gelten die gleichen Anforderungen an das Drama wie pwa_184.035
an das altepische Lied: dann aber sondern sie sich auf demselben pwa_184.036
Puncte, auf dem überhaupt der Unterschied zwischen Epos und Drama pwa_184.037
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/202>, abgerufen am 21.11.2024.