Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_207.001 pwa_207.009 pwa_207.001 pwa_207.009 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0225" n="207"/><lb n="pwa_207.001"/> geht; dann aber ist das Mass künstlerischer Energie voll, wenn das <lb n="pwa_207.002"/> Gemüth auch den Verstand mit sich hinauf nimmt, wenn sich zum <lb n="pwa_207.003"/> Humor noch die Ironie gesellt, die gleichsam als der Humor des <lb n="pwa_207.004"/> Verstandes sich gleichfalls hoch über die verächtliche Wirklichkeit <lb n="pwa_207.005"/> erhebt. Und auch hier ist wiederum Shakspeare zu nennen als der <lb n="pwa_207.006"/> erste unter Allen, ja beinahe als der Einzige, der mit einer solchen <lb n="pwa_207.007"/> Vereinigung von Humor und Ironie der dramatischen Kunst das Schlusssiegel <lb n="pwa_207.008"/> der Vollendung aufgedrückt hat.</p> <p><lb n="pwa_207.009"/> Nach all diesem ist es Wesen und Zweck der Tragödie, dass sie <lb n="pwa_207.010"/> Gemüth und Wirklichkeit in Widerspruch zu einander versetze, zugleich <lb n="pwa_207.011"/> aber selbst diesen Widerspruch tröstend aufhebe. Und damit vertragen <lb n="pwa_207.012"/> sich sehr wohl einige vielbesprochene Worte in der Aristotelischen <lb n="pwa_207.013"/> Definition der Tragödie, welche vollständig folgender Massen lautet <lb n="pwa_207.014"/> (Poet. 6): „Es ist Tragödie die Nachahmung einer bedeutenden und <lb n="pwa_207.015"/> in sich abgeschlossenen Handlung von einem gewissen Umfange, in <lb n="pwa_207.016"/> angenehmer Sprache, ausgeführt von Handelnden, und nicht durch <lb n="pwa_207.017"/> Erzählung, sondern durch Mitleid und Furcht die Reinigung solcher <lb n="pwa_207.018"/> Leidenschaften vollbringend.“ Wir können alles Uebrige in dieser <lb n="pwa_207.019"/> Definition bei Seite liegen lassen, da das Alles schon früher ist erledigt <lb n="pwa_207.020"/> worden: hier berührt uns nur der letzte Satz „durch Mitleid <lb n="pwa_207.021"/> und Furcht“ u. s. w. <foreign xml:lang="grc">δἰ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων</foreign> <lb n="pwa_207.022"/> <foreign xml:lang="grc">παθημάτων κάθαρσιν</foreign>. Bis auf Lessing hat man diese Worte mannigfaltig <lb n="pwa_207.023"/> missverstanden, indem man <foreign xml:lang="grc">φόβος</foreign> nicht im Sinne von Furcht, <lb n="pwa_207.024"/> sondern im Sinne von Schrecken auffasste, und dann, was erheblicher <lb n="pwa_207.025"/> ist, die <foreign xml:lang="grc">τοιαῦτα παθήματα</foreign> auf die im Drama dargestellten Leidenschaften <lb n="pwa_207.026"/> bezog: also verstand, die Tragödie solle durch Mitleid und <lb n="pwa_207.027"/> Schrecken in dem Zuschauer jedesmal diejenigen Leidenschaften reinigen, <lb n="pwa_207.028"/> die er grade vor sich dargestellt erblicke. Es ist Lessing gewesen, <lb n="pwa_207.029"/> der in seiner Hamburgischen Dramaturgie den einzig möglichen Sinn <lb n="pwa_207.030"/> dieser Worte zuerst überzeugend dargethan hat, dass nämlich <foreign xml:lang="grc">φόβος</foreign> <lb n="pwa_207.031"/> Furcht bedeute, und die <foreign xml:lang="grc">τοιαῦτα παθήματα</foreign> Leidenschaften, Gemüthsregungen <lb n="pwa_207.032"/> von der Art wie Mitleid und Furcht: die Tragödie solle <lb n="pwa_207.033"/> durch Mitleid und Furcht eben diese und dergleichen Gemüthsregungen, <lb n="pwa_207.034"/> solle wieder das Mitleid und die Furcht selbst, und welche Gemüthsregungen <lb n="pwa_207.035"/> noch mit ihnen zusammenhangen, läutern und reinigen. Und <lb n="pwa_207.036"/> diess lasse sich, ist vorher gesagt worden, sehr wohl mit dem vereinen, <lb n="pwa_207.037"/> was wir als das Wesen der Tragödie erkannt haben. Allerdings <lb n="pwa_207.038"/> sind auch erstlich Mitleid und Furcht und alle dergleichen Affecte <lb n="pwa_207.039"/> in dem Kreise der wehmüthigen Empfindung enthalten, die den Character <lb n="pwa_207.040"/> der Tragödie abgiebt. Denn das Mitleid, das wir mit einer <lb n="pwa_207.041"/> dramatischen Person fühlen, die sich in verderblichem Irrthum von </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [207/0225]
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geht; dann aber ist das Mass künstlerischer Energie voll, wenn das pwa_207.002
Gemüth auch den Verstand mit sich hinauf nimmt, wenn sich zum pwa_207.003
Humor noch die Ironie gesellt, die gleichsam als der Humor des pwa_207.004
Verstandes sich gleichfalls hoch über die verächtliche Wirklichkeit pwa_207.005
erhebt. Und auch hier ist wiederum Shakspeare zu nennen als der pwa_207.006
erste unter Allen, ja beinahe als der Einzige, der mit einer solchen pwa_207.007
Vereinigung von Humor und Ironie der dramatischen Kunst das Schlusssiegel pwa_207.008
der Vollendung aufgedrückt hat.
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Nach all diesem ist es Wesen und Zweck der Tragödie, dass sie pwa_207.010
Gemüth und Wirklichkeit in Widerspruch zu einander versetze, zugleich pwa_207.011
aber selbst diesen Widerspruch tröstend aufhebe. Und damit vertragen pwa_207.012
sich sehr wohl einige vielbesprochene Worte in der Aristotelischen pwa_207.013
Definition der Tragödie, welche vollständig folgender Massen lautet pwa_207.014
(Poet. 6): „Es ist Tragödie die Nachahmung einer bedeutenden und pwa_207.015
in sich abgeschlossenen Handlung von einem gewissen Umfange, in pwa_207.016
angenehmer Sprache, ausgeführt von Handelnden, und nicht durch pwa_207.017
Erzählung, sondern durch Mitleid und Furcht die Reinigung solcher pwa_207.018
Leidenschaften vollbringend.“ Wir können alles Uebrige in dieser pwa_207.019
Definition bei Seite liegen lassen, da das Alles schon früher ist erledigt pwa_207.020
worden: hier berührt uns nur der letzte Satz „durch Mitleid pwa_207.021
und Furcht“ u. s. w. δἰ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων pwa_207.022
παθημάτων κάθαρσιν. Bis auf Lessing hat man diese Worte mannigfaltig pwa_207.023
missverstanden, indem man φόβος nicht im Sinne von Furcht, pwa_207.024
sondern im Sinne von Schrecken auffasste, und dann, was erheblicher pwa_207.025
ist, die τοιαῦτα παθήματα auf die im Drama dargestellten Leidenschaften pwa_207.026
bezog: also verstand, die Tragödie solle durch Mitleid und pwa_207.027
Schrecken in dem Zuschauer jedesmal diejenigen Leidenschaften reinigen, pwa_207.028
die er grade vor sich dargestellt erblicke. Es ist Lessing gewesen, pwa_207.029
der in seiner Hamburgischen Dramaturgie den einzig möglichen Sinn pwa_207.030
dieser Worte zuerst überzeugend dargethan hat, dass nämlich φόβος pwa_207.031
Furcht bedeute, und die τοιαῦτα παθήματα Leidenschaften, Gemüthsregungen pwa_207.032
von der Art wie Mitleid und Furcht: die Tragödie solle pwa_207.033
durch Mitleid und Furcht eben diese und dergleichen Gemüthsregungen, pwa_207.034
solle wieder das Mitleid und die Furcht selbst, und welche Gemüthsregungen pwa_207.035
noch mit ihnen zusammenhangen, läutern und reinigen. Und pwa_207.036
diess lasse sich, ist vorher gesagt worden, sehr wohl mit dem vereinen, pwa_207.037
was wir als das Wesen der Tragödie erkannt haben. Allerdings pwa_207.038
sind auch erstlich Mitleid und Furcht und alle dergleichen Affecte pwa_207.039
in dem Kreise der wehmüthigen Empfindung enthalten, die den Character pwa_207.040
der Tragödie abgiebt. Denn das Mitleid, das wir mit einer pwa_207.041
dramatischen Person fühlen, die sich in verderblichem Irrthum von
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