pwa_235.001 Rhetorik ist schon seit lange ein Wort von sehr unbestimmtem pwa_235.002 und wandelbarem Begriffe, bald von sehr eingeschränktem, bald wieder pwa_235.003 über das Mass ausgedehntem Sinn. Die Alten verstanden demgemäss, pwa_235.004 dass Retor einen Redner und einen Lehrer der Beredsamkeit pwa_235.005 bezeichnet, darunter auch nur die Kunst und Lehre der Beredsamkeit; pwa_235.006 und so fasste sie Aristoteles, der wie der Vater der Poetik, so auch pwa_235.007 der der Rhetorik zu nennen ist. Ganz entsprechend nun dem Zwecke, pwa_235.008 dass die Rhetorik zur vollständigen und erschöpfenden Bildung und pwa_235.009 Unterweisung von Rednern dienen sollte, zogen die Alten ausser dem, pwa_235.010 was den Redner ins Besondere angeht, auch Vieles mit hinein, was pwa_235.011 die Kunst des Redners mit der jedes andern Prosaikers und selbst pwa_235.012 der des Dichters theilt, allerlei Dinge, die überhaupt zu jeglicher pwa_235.013 Darstellung durch das Wort gehören: sie lehrten also in der Rhetorik pwa_235.014 nicht bloss den Bau der "Rede" und die Mittel, die zu den verschiedenen pwa_235.015 Zwecken derselben führen, sondern sie gaben da zugleich auch pwa_235.016 Anweisungen in Bezug auf Richtigkeit und Schönheit des Ausdrucks, pwa_235.017 auf Periodenbau, auf wohllautende Gliederung der Worte, auf Ausschmückung pwa_235.018 durch uneigentliche und bildliche Wendungen, kurz in pwa_235.019 Bezug auf allerlei Dinge, die ihren Ort ebensowohl in einer philosophischen pwa_235.020 Abhandlung, in einer historischen Darstellung und in jedem pwa_235.021 epischen und lyrischen und dramatischen Gedichte haben, als grade pwa_235.022 bloss in der Rede: sie schlossen in die Rhetorik auch die Stilistik pwa_235.023 ein, aber nicht, als ob nur der Redekünstler sie brauche, sondern pwa_235.024 weil er sie auch braucht. Wenn sie es für nöthig befunden hätten, pwa_235.025 einmal eine Historiographik abzufassen, würden sie die Stilistik ebensowohl pwa_235.026 mit hineingezogen haben; und Aristoteles hat auch in seiner pwa_235.027 Poetik wirklich einige stilistische Abschnitte.
pwa_235.028 Die neuere Zeit hat sich durch diese Verbindung von Rhetorik pwa_235.029 und Stilistik, die man einmal in den griechischen und lateinischen pwa_235.030 Lehrbüchern vorfand, und die auch in deren Zwecken gar wohl begründet pwa_235.031 war, nach zwei Seiten hin auf Irrwege verleiten lassen. Die pwa_235.032 Einen nehmen deshalb, weil jene stilistischen Gesetze und Regeln ihre pwa_235.033 Anwendung eben auch auf den poetischen Vortrag finden, das Wort pwa_235.034 Rhetorik in einem so weit ausgedehnten Begriffe, dass es wirklich
pwa_235.001 Rhetorik ist schon seit lange ein Wort von sehr unbestimmtem pwa_235.002 und wandelbarem Begriffe, bald von sehr eingeschränktem, bald wieder pwa_235.003 über das Mass ausgedehntem Sinn. Die Alten verstanden demgemäss, pwa_235.004 dass ῥήτωρ einen Redner und einen Lehrer der Beredsamkeit pwa_235.005 bezeichnet, darunter auch nur die Kunst und Lehre der Beredsamkeit; pwa_235.006 und so fasste sie Aristoteles, der wie der Vater der Poetik, so auch pwa_235.007 der der Rhetorik zu nennen ist. Ganz entsprechend nun dem Zwecke, pwa_235.008 dass die Rhetorik zur vollständigen und erschöpfenden Bildung und pwa_235.009 Unterweisung von Rednern dienen sollte, zogen die Alten ausser dem, pwa_235.010 was den Redner ins Besondere angeht, auch Vieles mit hinein, was pwa_235.011 die Kunst des Redners mit der jedes andern Prosaikers und selbst pwa_235.012 der des Dichters theilt, allerlei Dinge, die überhaupt zu jeglicher pwa_235.013 Darstellung durch das Wort gehören: sie lehrten also in der Rhetorik pwa_235.014 nicht bloss den Bau der „Rede“ und die Mittel, die zu den verschiedenen pwa_235.015 Zwecken derselben führen, sondern sie gaben da zugleich auch pwa_235.016 Anweisungen in Bezug auf Richtigkeit und Schönheit des Ausdrucks, pwa_235.017 auf Periodenbau, auf wohllautende Gliederung der Worte, auf Ausschmückung pwa_235.018 durch uneigentliche und bildliche Wendungen, kurz in pwa_235.019 Bezug auf allerlei Dinge, die ihren Ort ebensowohl in einer philosophischen pwa_235.020 Abhandlung, in einer historischen Darstellung und in jedem pwa_235.021 epischen und lyrischen und dramatischen Gedichte haben, als grade pwa_235.022 bloss in der Rede: sie schlossen in die Rhetorik auch die Stilistik pwa_235.023 ein, aber nicht, als ob nur der Redekünstler sie brauche, sondern pwa_235.024 weil er sie auch braucht. Wenn sie es für nöthig befunden hätten, pwa_235.025 einmal eine Historiographik abzufassen, würden sie die Stilistik ebensowohl pwa_235.026 mit hineingezogen haben; und Aristoteles hat auch in seiner pwa_235.027 Poetik wirklich einige stilistische Abschnitte.
pwa_235.028 Die neuere Zeit hat sich durch diese Verbindung von Rhetorik pwa_235.029 und Stilistik, die man einmal in den griechischen und lateinischen pwa_235.030 Lehrbüchern vorfand, und die auch in deren Zwecken gar wohl begründet pwa_235.031 war, nach zwei Seiten hin auf Irrwege verleiten lassen. Die pwa_235.032 Einen nehmen deshalb, weil jene stilistischen Gesetze und Regeln ihre pwa_235.033 Anwendung eben auch auf den poetischen Vortrag finden, das Wort pwa_235.034 Rhetorik in einem so weit ausgedehnten Begriffe, dass es wirklich
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[E235/0253]
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Rhetorik ist schon seit lange ein Wort von sehr unbestimmtem pwa_235.002
und wandelbarem Begriffe, bald von sehr eingeschränktem, bald wieder pwa_235.003
über das Mass ausgedehntem Sinn. Die Alten verstanden demgemäss, pwa_235.004
dass ῥήτωρ einen Redner und einen Lehrer der Beredsamkeit pwa_235.005
bezeichnet, darunter auch nur die Kunst und Lehre der Beredsamkeit; pwa_235.006
und so fasste sie Aristoteles, der wie der Vater der Poetik, so auch pwa_235.007
der der Rhetorik zu nennen ist. Ganz entsprechend nun dem Zwecke, pwa_235.008
dass die Rhetorik zur vollständigen und erschöpfenden Bildung und pwa_235.009
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Bezug auf allerlei Dinge, die ihren Ort ebensowohl in einer philosophischen pwa_235.020
Abhandlung, in einer historischen Darstellung und in jedem pwa_235.021
epischen und lyrischen und dramatischen Gedichte haben, als grade pwa_235.022
bloss in der Rede: sie schlossen in die Rhetorik auch die Stilistik pwa_235.023
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mit hineingezogen haben; und Aristoteles hat auch in seiner pwa_235.027
Poetik wirklich einige stilistische Abschnitte.
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Die neuere Zeit hat sich durch diese Verbindung von Rhetorik pwa_235.029
und Stilistik, die man einmal in den griechischen und lateinischen pwa_235.030
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. E235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/253>, abgerufen am 22.11.2024.
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