Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873 pwa_237.001 I. VON DER PROSA IM ALLGEMEINEN. pwa_237.002 pwa_237.022 pwa_237.001 I. VON DER PROSA IM ALLGEMEINEN. pwa_237.002 pwa_237.022 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0255" n="237"/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#c"><lb n="pwa_237.001"/> I. VON DER PROSA IM ALLGEMEINEN.</hi> </head> <p><lb n="pwa_237.002"/> Grade gegenüber wie ein Pol dem andern steht der Poesie die <lb n="pwa_237.003"/> Prosa. Sie ist der sprachliche Ausdruck für die Anschauungen, deren <lb n="pwa_237.004"/> Subject der Verstand ist und deren Object das Wahre, eben der <lb n="pwa_237.005"/> Verstand, der bei den Productionen der Poesie nur im Hintergrunde <lb n="pwa_237.006"/> steht, und eben das Wahre, das die Poesie nur in so fern in sich <lb n="pwa_237.007"/> aufnimmt, als es auch schön ist. Sie ist die Form, in welcher der <lb n="pwa_237.008"/> Verstand, das Organ des Wissenstriebes, seine Erfahrungen und <lb n="pwa_237.009"/> Urtheile, seine Erkenntniss niederlegt und darstellt, darstellt zu dem <lb n="pwa_237.010"/> Zwecke, dass auch bei der Reproduction es wiederum der Verstand <lb n="pwa_237.011"/> sei, der sich thätig erweise, dass dieser zu der gleichen Erkenntniss <lb n="pwa_237.012"/> gelange. In so fern ist der allgemeine Character der Prosa das Lehrhafte, <lb n="pwa_237.013"/> sie hat didactische Natur. Die Poesie richtet sich auf das <lb n="pwa_237.014"/> Gute und auf das Wahre, nur insofern es schön ist, weshalb denn <lb n="pwa_237.015"/> auch die didactische Poesie ohne Mitwirkung des Gefühles und der <lb n="pwa_237.016"/> Einbildungskraft nicht bestehen kann. Die Prosa dagegen bedarf solcher <lb n="pwa_237.017"/> Mitwirkung und Vermittelung nicht, sie wendet sich lediglich <lb n="pwa_237.018"/> und gradeswegs vom Verstande zum Verstande, und nicht immer ist <lb n="pwa_237.019"/> das, was der Verstand als wahr erkennt, auch schön und gut; wo <lb n="pwa_237.020"/> es aber schön und gut ist, macht er es doch nicht deswegen zum <lb n="pwa_237.021"/> Object seiner Anschauung, sondern weil es vor allen Dingen wahr ist.</p> <p><lb n="pwa_237.022"/> Die Prosa, die Sprache des Verstandes, ist also die Darstellung <lb n="pwa_237.023"/> des Guten und Schönen, insofern es wahr ist, und des Wahren, auch <lb n="pwa_237.024"/> wenn es nicht gut und schön ist. Deshalb bedarf denn auch <lb n="pwa_237.025"/> die prosaische Sprache nicht derselben Schönheit der Form als die <lb n="pwa_237.026"/> poetische. Nur in der Poesie, nur da, wo eine Anschauung des <lb n="pwa_237.027"/> Schönen darzustellen ist, muss auch über der Sprache das Gesetz der <lb n="pwa_237.028"/> Schönheit walten, welches Einheit in Mannigfaltigkeit fordert; nur <lb n="pwa_237.029"/> da bedarf es der rhythmischen Gliederung der Rede zu Versen und <lb n="pwa_237.030"/> der Vereinigung der Verse zu Strophen. Dem Verstande dagegen <lb n="pwa_237.031"/> kann es in der Form der Darstellung auch nur auf Verständlichkeit, <lb n="pwa_237.032"/> auf Deutlichkeit ankommen, mehr will er nicht, auf Schönheit der <lb n="pwa_237.033"/> Rede geht er nur in so fern aus, als sie zur Deutlichkeit frommt und <lb n="pwa_237.034"/> das Verständniss erleichtert; die Rede des Verstandes wird zwar niemals, <lb n="pwa_237.035"/> wenn sie eine gebildete ist, den Wohlklang ausser Acht lassen, <lb n="pwa_237.036"/> aber nur weil bei dem innigen Zusammenhange der Sinne und der <lb n="pwa_237.037"/> Seele der Verstand bereiter und willfähriger ist, eine ihm dargebotene <lb n="pwa_237.038"/> Erkenntniss in sich zu reproducieren, sobald sie ihm auf eine </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [237/0255]
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I. VON DER PROSA IM ALLGEMEINEN. pwa_237.002
Grade gegenüber wie ein Pol dem andern steht der Poesie die pwa_237.003
Prosa. Sie ist der sprachliche Ausdruck für die Anschauungen, deren pwa_237.004
Subject der Verstand ist und deren Object das Wahre, eben der pwa_237.005
Verstand, der bei den Productionen der Poesie nur im Hintergrunde pwa_237.006
steht, und eben das Wahre, das die Poesie nur in so fern in sich pwa_237.007
aufnimmt, als es auch schön ist. Sie ist die Form, in welcher der pwa_237.008
Verstand, das Organ des Wissenstriebes, seine Erfahrungen und pwa_237.009
Urtheile, seine Erkenntniss niederlegt und darstellt, darstellt zu dem pwa_237.010
Zwecke, dass auch bei der Reproduction es wiederum der Verstand pwa_237.011
sei, der sich thätig erweise, dass dieser zu der gleichen Erkenntniss pwa_237.012
gelange. In so fern ist der allgemeine Character der Prosa das Lehrhafte, pwa_237.013
sie hat didactische Natur. Die Poesie richtet sich auf das pwa_237.014
Gute und auf das Wahre, nur insofern es schön ist, weshalb denn pwa_237.015
auch die didactische Poesie ohne Mitwirkung des Gefühles und der pwa_237.016
Einbildungskraft nicht bestehen kann. Die Prosa dagegen bedarf solcher pwa_237.017
Mitwirkung und Vermittelung nicht, sie wendet sich lediglich pwa_237.018
und gradeswegs vom Verstande zum Verstande, und nicht immer ist pwa_237.019
das, was der Verstand als wahr erkennt, auch schön und gut; wo pwa_237.020
es aber schön und gut ist, macht er es doch nicht deswegen zum pwa_237.021
Object seiner Anschauung, sondern weil es vor allen Dingen wahr ist.
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Die Prosa, die Sprache des Verstandes, ist also die Darstellung pwa_237.023
des Guten und Schönen, insofern es wahr ist, und des Wahren, auch pwa_237.024
wenn es nicht gut und schön ist. Deshalb bedarf denn auch pwa_237.025
die prosaische Sprache nicht derselben Schönheit der Form als die pwa_237.026
poetische. Nur in der Poesie, nur da, wo eine Anschauung des pwa_237.027
Schönen darzustellen ist, muss auch über der Sprache das Gesetz der pwa_237.028
Schönheit walten, welches Einheit in Mannigfaltigkeit fordert; nur pwa_237.029
da bedarf es der rhythmischen Gliederung der Rede zu Versen und pwa_237.030
der Vereinigung der Verse zu Strophen. Dem Verstande dagegen pwa_237.031
kann es in der Form der Darstellung auch nur auf Verständlichkeit, pwa_237.032
auf Deutlichkeit ankommen, mehr will er nicht, auf Schönheit der pwa_237.033
Rede geht er nur in so fern aus, als sie zur Deutlichkeit frommt und pwa_237.034
das Verständniss erleichtert; die Rede des Verstandes wird zwar niemals, pwa_237.035
wenn sie eine gebildete ist, den Wohlklang ausser Acht lassen, pwa_237.036
aber nur weil bei dem innigen Zusammenhange der Sinne und der pwa_237.037
Seele der Verstand bereiter und willfähriger ist, eine ihm dargebotene pwa_237.038
Erkenntniss in sich zu reproducieren, sobald sie ihm auf eine
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