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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Idee in ihrer lebendigen Schönheit; die Sage aber, dichterisch pwa_239.002
in ihrem Wesen, zeigt sich auch in der Form dichterisch, als Lied, pwa_239.003
als Gesang, und es gilt für diese Zeit von allen Völkern, was Tacitus pwa_239.004
(Germ. 2) von den Germanen sagt: "Carmina antiqua unum apud illos pwa_239.005
memoriae et annalium genus." Selbst der Verstand geht jetzt noch pwa_239.006
mehr oder weniger in die Poesie unter: er giebt seinen Lehren eine pwa_239.007
solche Beziehung auf Einbildung und Gefühl, wodurch sie auf das pwa_239.008
Gebiet der poetischen Anschauungen oder doch wenigstens an dessen pwa_239.009
Grenze versetzt werden, wie das früherhin bei der didactischen pwa_239.010
Epik und der didactischen Lyrik ausführlich ist besprochen worden pwa_239.011
(S. 100. 153); und wo das nicht gelingt, muss sich die Lehre dennoch pwa_239.012
wenigstens die poetische Form gefallen lassen: so wenig ist man pwa_239.013
jetzt noch mit einer andern Art der Darstellung bekannt: in dieser pwa_239.014
Zeit werden denn z. B. selbst die Rechtssatzungen metrisch und immerhin pwa_239.015
mit einer gewissen poetischen Färbung des Ausdrucks abgefasst, pwa_239.016
wie das von griechischen und keltischen Völkern mehrfach berichtet pwa_239.017
wird, und wie von germanischen noch genug der Art sich erhalten hat.

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Allgemach wird aber der Wendepunct erreicht: dem Verstande pwa_239.019
kommt endlich das Bewusstsein, was in der Litteratur sein Recht und pwa_239.020
seine Sache sei: er ärgert sich an dem, was die Phantasie aus der pwa_239.021
Geschichte gemacht hat, er stösst sie zurück und will nur noch mit pwa_239.022
der unschuldigen Erinnerung zu schaffen haben; er verschmäht von pwa_239.023
der Geschichte nichts, da es ihm nur auf Wahrheit ankommt: so pwa_239.024
häufen sich die Nachrichten, und zugleich mit der Nothwendigkeit pwa_239.025
einer bequemeren und kunstloseren Darstellungsweise kommt die Einsicht, pwa_239.026
dass eine solche auch passlicher sei; so erwächst denn aus pwa_239.027
der epischen Poesie die Eine Art der Prosa, die erzählende, historische. pwa_239.028
Auch in der didactischen Poesie stellt es sich immer mehr pwa_239.029
heraus, wie wenig angemessen und auch wie hemmend die dichterische pwa_239.030
Auffassung und Darstellung in den meisten Fällen sei, wie viel kürzer pwa_239.031
sich das Eine geben, wie viel genauer sich das Andere ausführen, wie pwa_239.032
viel deutlicher und verständlicher sich also beidemal reden lasse, wenn pwa_239.033
man die prosaische Form erwähle; das Staatswesen, das gesellschaftliche pwa_239.034
Leben wird immer verwickelter, vielleicht auch die Sittenverderbniss pwa_239.035
immer grösser, da genügt es nicht mehr an den wenigen pwa_239.036
alten Satzungen in metrischer Form, man braucht jetzt viele, mit pwa_239.037
vorsichtiger Ausführlichkeit abgefasste: und so schliesst sich denn an pwa_239.038
die didactische Poesie die didactische Prosa.

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Noch ein äusserer Umstand ist nicht zu übersehen, der überall pwa_239.040
das Seinige dazu beigetragen hat, die Ausbildung der Prosa, sowohl pwa_239.041
der historischen als der didactischen, zu unterstützen und zu beschleunigen:

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Idee in ihrer lebendigen Schönheit; die Sage aber, dichterisch pwa_239.002
in ihrem Wesen, zeigt sich auch in der Form dichterisch, als Lied, pwa_239.003
als Gesang, und es gilt für diese Zeit von allen Völkern, was Tacitus pwa_239.004
(Germ. 2) von den Germanen sagt: „Carmina antiqua unum apud illos pwa_239.005
memoriae et annalium genus.“ Selbst der Verstand geht jetzt noch pwa_239.006
mehr oder weniger in die Poesie unter: er giebt seinen Lehren eine pwa_239.007
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Gebiet der poetischen Anschauungen oder doch wenigstens an dessen pwa_239.009
Grenze versetzt werden, wie das früherhin bei der didactischen pwa_239.010
Epik und der didactischen Lyrik ausführlich ist besprochen worden pwa_239.011
(S. 100. 153); und wo das nicht gelingt, muss sich die Lehre dennoch pwa_239.012
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jetzt noch mit einer andern Art der Darstellung bekannt: in dieser pwa_239.014
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wird, und wie von germanischen noch genug der Art sich erhalten hat.

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Allgemach wird aber der Wendepunct erreicht: dem Verstande pwa_239.019
kommt endlich das Bewusstsein, was in der Litteratur sein Recht und pwa_239.020
seine Sache sei: er ärgert sich an dem, was die Phantasie aus der pwa_239.021
Geschichte gemacht hat, er stösst sie zurück und will nur noch mit pwa_239.022
der unschuldigen Erinnerung zu schaffen haben; er verschmäht von pwa_239.023
der Geschichte nichts, da es ihm nur auf Wahrheit ankommt: so pwa_239.024
häufen sich die Nachrichten, und zugleich mit der Nothwendigkeit pwa_239.025
einer bequemeren und kunstloseren Darstellungsweise kommt die Einsicht, pwa_239.026
dass eine solche auch passlicher sei; so erwächst denn aus pwa_239.027
der epischen Poesie die Eine Art der Prosa, die erzählende, historische. pwa_239.028
Auch in der didactischen Poesie stellt es sich immer mehr pwa_239.029
heraus, wie wenig angemessen und auch wie hemmend die dichterische pwa_239.030
Auffassung und Darstellung in den meisten Fällen sei, wie viel kürzer pwa_239.031
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viel deutlicher und verständlicher sich also beidemal reden lasse, wenn pwa_239.033
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vorsichtiger Ausführlichkeit abgefasste: und so schliesst sich denn an pwa_239.038
die didactische Poesie die didactische Prosa.

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Noch ein äusserer Umstand ist nicht zu übersehen, der überall pwa_239.040
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[239/0257] pwa_239.001 Idee in ihrer lebendigen Schönheit; die Sage aber, dichterisch pwa_239.002 in ihrem Wesen, zeigt sich auch in der Form dichterisch, als Lied, pwa_239.003 als Gesang, und es gilt für diese Zeit von allen Völkern, was Tacitus pwa_239.004 (Germ. 2) von den Germanen sagt: „Carmina antiqua unum apud illos pwa_239.005 memoriae et annalium genus.“ Selbst der Verstand geht jetzt noch pwa_239.006 mehr oder weniger in die Poesie unter: er giebt seinen Lehren eine pwa_239.007 solche Beziehung auf Einbildung und Gefühl, wodurch sie auf das pwa_239.008 Gebiet der poetischen Anschauungen oder doch wenigstens an dessen pwa_239.009 Grenze versetzt werden, wie das früherhin bei der didactischen pwa_239.010 Epik und der didactischen Lyrik ausführlich ist besprochen worden pwa_239.011 (S. 100. 153); und wo das nicht gelingt, muss sich die Lehre dennoch pwa_239.012 wenigstens die poetische Form gefallen lassen: so wenig ist man pwa_239.013 jetzt noch mit einer andern Art der Darstellung bekannt: in dieser pwa_239.014 Zeit werden denn z. B. selbst die Rechtssatzungen metrisch und immerhin pwa_239.015 mit einer gewissen poetischen Färbung des Ausdrucks abgefasst, pwa_239.016 wie das von griechischen und keltischen Völkern mehrfach berichtet pwa_239.017 wird, und wie von germanischen noch genug der Art sich erhalten hat. pwa_239.018 Allgemach wird aber der Wendepunct erreicht: dem Verstande pwa_239.019 kommt endlich das Bewusstsein, was in der Litteratur sein Recht und pwa_239.020 seine Sache sei: er ärgert sich an dem, was die Phantasie aus der pwa_239.021 Geschichte gemacht hat, er stösst sie zurück und will nur noch mit pwa_239.022 der unschuldigen Erinnerung zu schaffen haben; er verschmäht von pwa_239.023 der Geschichte nichts, da es ihm nur auf Wahrheit ankommt: so pwa_239.024 häufen sich die Nachrichten, und zugleich mit der Nothwendigkeit pwa_239.025 einer bequemeren und kunstloseren Darstellungsweise kommt die Einsicht, pwa_239.026 dass eine solche auch passlicher sei; so erwächst denn aus pwa_239.027 der epischen Poesie die Eine Art der Prosa, die erzählende, historische. pwa_239.028 Auch in der didactischen Poesie stellt es sich immer mehr pwa_239.029 heraus, wie wenig angemessen und auch wie hemmend die dichterische pwa_239.030 Auffassung und Darstellung in den meisten Fällen sei, wie viel kürzer pwa_239.031 sich das Eine geben, wie viel genauer sich das Andere ausführen, wie pwa_239.032 viel deutlicher und verständlicher sich also beidemal reden lasse, wenn pwa_239.033 man die prosaische Form erwähle; das Staatswesen, das gesellschaftliche pwa_239.034 Leben wird immer verwickelter, vielleicht auch die Sittenverderbniss pwa_239.035 immer grösser, da genügt es nicht mehr an den wenigen pwa_239.036 alten Satzungen in metrischer Form, man braucht jetzt viele, mit pwa_239.037 vorsichtiger Ausführlichkeit abgefasste: und so schliesst sich denn an pwa_239.038 die didactische Poesie die didactische Prosa. pwa_239.039 Noch ein äusserer Umstand ist nicht zu übersehen, der überall pwa_239.040 das Seinige dazu beigetragen hat, die Ausbildung der Prosa, sowohl pwa_239.041 der historischen als der didactischen, zu unterstützen und zu beschleunigen:

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/257>, abgerufen am 22.11.2024.