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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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festbannen kann. Dieser Unterschied zwischen der Poesie und pwa_009.002
den bildenden Künsten, dass also jene von Moment zu Moment progressiv pwa_009.003
und successiv, diese auf einen Moment fixiert darstellen, diesen pwa_009.004
wesentlichen und folgereichen Unterschied zuerst recht hervorgehoben pwa_009.005
zu haben, ist eins der vielen Verdienste Lessings; es ist das der pwa_009.006
hauptsächliche Zweck seines Buches "Laokoon oder über die Grenzen pwa_009.007
der Poesie und Malerei" (1766) gewesen; Herder hat diesen Gegenstand pwa_009.008
sodann in seinen "Kritischen Wäldern oder Betrachtungen die Wissenschaft pwa_009.009
und Kunst des Schönen betreffend" (1769) weiter ausgeführt pwa_009.010
und theilweise berichtigt, theilweise aber auch verwirrt. Wir werden pwa_009.011
späterhin noch mehr als einmal davon handeln.

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Kehren wir zur Kunst im Allgemeinen zurück. Kunst ist nicht, pwa_009.013
wie ein älterer deutscher Aesthetiker sie erklärt hat, diejenige mechanische pwa_009.014
Handgeschicklichkeit, durch welche vermittelst gewisser Werkzeuge pwa_009.015
ein natürlicher Körper zur Waare gemacht wird: sondern es pwa_009.016
ist die Kunst die schöne Darstellung des Schönen, oder um es philosophischer, pwa_009.017
terminologischer zu geben, die schöne Objectivierung des pwa_009.018
subjectiv angeschauten Schönen. Zwar hat der, welchen wir als Gründer pwa_009.019
aller Poetik ehren müssen, Aristoteles hat in seinem Buche peri pwa_009.020
poietikes1 die Sache ganz anders aufgefasst: er erkennt das Wesen, pwa_009.021
den Ursprung und das Ziel aller Kunst lediglich in der mimesis, in pwa_009.022
der Nachahmung: zwei in der Natur aller Menschen beruhende Ursachen pwa_009.023
haben nach ihm zur Poesie geführt, der Trieb nachzuahmen pwa_009.024
und die Freude, die uns eine Nachahmung gewährt. Man hat diese pwa_009.025
Erklärung in neueren Zeiten meistentheils fallen lassen, und billig: pwa_009.026
denn wo soll die Kunstlehre bei ihr die Architectur, wo die Musik, pwa_009.027
wo die Lyrik, wo sogar auch das Epos hinbringen: keine von diesen pwa_009.028
Gattungen und Arten der Kunst ahmt nach. Freilich gäbe es nur pwa_009.029
Sculptur und Malerei, und wäre die einzige Art der Poesie das Drama, pwa_009.030
so würde jene Erklärung einen grossen Schein von Richtigkeit haben. pwa_009.031
Es erweist sich bald, wie Aristoteles zu einer so ungenügenden und pwa_009.032
einseitigen Definition hat gelangen können. Einmal weicht er die pwa_009.033
ganze Schrift hindurch nirgend von dem rein empirischen Standpunkt, pwa_009.034
so dass er sich um das erste und letzte Princip der Kunst, um das pwa_009.035
Schöne, kaum mit einer Silbe kümmert, und es lagen seiner Empirie pwa_009.036
nur die Werke der griechischen Kunst und Dichtkunst vor; sodann pwa_009.037
hat er auch unter den bildenden Künsten die Architectur ganz übersehen, pwa_009.038
er zieht sie nicht ein einziges Mal in Betracht; ebenso nennt pwa_009.039
er unter den Arten der Poesie die lyrische nur ein Mal, nennt sie,

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Poet. 1, 1. 26, 2. Rhet. 1, 11, 23. Vgl. auch Plat. Republ. p. 373. 595.

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festbannen kann. Dieser Unterschied zwischen der Poesie und pwa_009.002
den bildenden Künsten, dass also jene von Moment zu Moment progressiv pwa_009.003
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sodann in seinen „Kritischen Wäldern oder Betrachtungen die Wissenschaft pwa_009.009
und Kunst des Schönen betreffend“ (1769) weiter ausgeführt pwa_009.010
und theilweise berichtigt, theilweise aber auch verwirrt. Wir werden pwa_009.011
späterhin noch mehr als einmal davon handeln.

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Kehren wir zur Kunst im Allgemeinen zurück. Kunst ist nicht, pwa_009.013
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Handgeschicklichkeit, durch welche vermittelst gewisser Werkzeuge pwa_009.015
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terminologischer zu geben, die schöne Objectivierung des pwa_009.018
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ποιητικῆς1 die Sache ganz anders aufgefasst: er erkennt das Wesen, pwa_009.021
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Gattungen und Arten der Kunst ahmt nach. Freilich gäbe es nur pwa_009.029
Sculptur und Malerei, und wäre die einzige Art der Poesie das Drama, pwa_009.030
so würde jene Erklärung einen grossen Schein von Richtigkeit haben. pwa_009.031
Es erweist sich bald, wie Aristoteles zu einer so ungenügenden und pwa_009.032
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Poet. 1, 1. 26, 2. Rhet. 1, 11, 23. Vgl. auch Plat. Republ. p. 373. 595.
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/27>, abgerufen am 21.11.2024.