Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_266.001 pwa_266.007 pwa_266.008 pwa_266.001 pwa_266.007 pwa_266.008 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0284" n="266"/> <p><lb n="pwa_266.001"/> Die lehrhafte Prosa schränkt sich also entweder auf den Verstand <lb n="pwa_266.002"/> und die Ueberzeugung ein, oder sie nimmt auch Gefühl und Phantasie <lb n="pwa_266.003"/> in Anspruch und fügt somit der Ueberzeugung die Ueberredung hinzu: <lb n="pwa_266.004"/> dadurch nun unterscheiden sich auch die beiden Hauptarten der <lb n="pwa_266.005"/> didactischen Prosa, die abhandelnde und die rednerische: die abhandelnde <lb n="pwa_266.006"/> überzeugt, die rednerische überzeugt und überredet.</p> <p><lb n="pwa_266.007"/> Wir fassen zuerst die <hi rendition="#b">abhandelnde Prosa</hi> ins Auge.</p> <p><lb n="pwa_266.008"/> Zur abhandelnden Prosa gehören alle wissenschaftlichen Werke, <lb n="pwa_266.009"/> deren Inhalt kein historischer ist, die nicht eine bewegte und vergangene <lb n="pwa_266.010"/> Wirklichkeit der Aussenwelt zum Gegenstande ihrer Darstellung <lb n="pwa_266.011"/> haben, sondern die Gesetze, die nur dem Geiste wahrnehmbar <lb n="pwa_266.012"/> in beständiger Gegenwart und unveränderlich andauernd hinter <lb n="pwa_266.013"/> und unter der beweglichen und vergehenden äusseren Wirklichkeit <lb n="pwa_266.014"/> liegen. Die Geschichtsschreibung gehört also zur erzählenden Prosa: <lb n="pwa_266.015"/> die Philosophie der Geschichte dagegen zur abhandelnden. Oder: die <lb n="pwa_266.016"/> Naturgeschichte, wie man das Wort jetzt strenger zu nehmen pflegt, <lb n="pwa_266.017"/> ist rein historisch: sie erzählt von der Bildung und Veränderung der <lb n="pwa_266.018"/> Erde oder der ganzen Welt und dessen, was in und auf und mit ihr <lb n="pwa_266.019"/> lebt; die Naturbeschreibung hält zwischen erzählender und abhandelnder, <lb n="pwa_266.020"/> historischer und didactischer Prosa eine Mitte, da ihr Gegenstand <lb n="pwa_266.021"/> zwar eine ruhende Wirklichkeit, aber eine Wirklichkeit der <lb n="pwa_266.022"/> Aussenwelt und eine solche ist, die in der Darstellung den Anschein <lb n="pwa_266.023"/> einer historischen Beweglichkeit gewinnen kann und soll: die Naturkunde <lb n="pwa_266.024"/> dagegen ist rein abhandelnd: denn sie hat bloss von den unwandelbaren <lb n="pwa_266.025"/> Gesetzen zu sprechen, von denen jene bewegte oder ruhende <lb n="pwa_266.026"/> Wirklichkeit nur die äussere vergängliche Erscheinung ist. Und so <lb n="pwa_266.027"/> fort. Trotz diesem wesentlichen Unterschiede kann man es dennoch <lb n="pwa_266.028"/> der abhandelnden Prosa nicht verwehren, dass sie jezuweilen in die <lb n="pwa_266.029"/> Erzählung oder Beschreibung hinüberstreife; es wird ihr auch in vielen <lb n="pwa_266.030"/> Fällen unmöglich sein, anders zu verfahren. Namentlich ist naturwissenschaftlichen <lb n="pwa_266.031"/> Werken diese Freiheit zu lassen: die Naturkunde <lb n="pwa_266.032"/> wird fort und fort genöthigt sein, hier Glieder der Naturgeschichte, <lb n="pwa_266.033"/> dort Glieder der Naturbeschreibung in sich aufzunehmen. An die <lb n="pwa_266.034"/> Erinnerung also darf sich der abhandelnde Prosaiker sehr wohl wenden: <lb n="pwa_266.035"/> denn nur diese eine Seite der Einbildungskraft wird bei solchem <lb n="pwa_266.036"/> Verfahren in Mitwirkung gezogen; aber nicht an die selbständige und <lb n="pwa_266.037"/> willkürlich schöpferische Phantasie und ebenso wenig an das sinnlich <lb n="pwa_266.038"/> und sittlich reizbare Gefühl. Denn sein Ziel ist lediglich die volle <lb n="pwa_266.039"/> unverkürzte Wahrheit, nicht aber das Gute als solches, nicht das <lb n="pwa_266.040"/> Schöne, nicht das Edle und Anmuthige. Die abhandelnde Prosa soll <lb n="pwa_266.041"/> nur überzeugen wollen, die Ueberredung dagegen durch Anregung </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [266/0284]
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Die lehrhafte Prosa schränkt sich also entweder auf den Verstand pwa_266.002
und die Ueberzeugung ein, oder sie nimmt auch Gefühl und Phantasie pwa_266.003
in Anspruch und fügt somit der Ueberzeugung die Ueberredung hinzu: pwa_266.004
dadurch nun unterscheiden sich auch die beiden Hauptarten der pwa_266.005
didactischen Prosa, die abhandelnde und die rednerische: die abhandelnde pwa_266.006
überzeugt, die rednerische überzeugt und überredet.
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Wir fassen zuerst die abhandelnde Prosa ins Auge.
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Zur abhandelnden Prosa gehören alle wissenschaftlichen Werke, pwa_266.009
deren Inhalt kein historischer ist, die nicht eine bewegte und vergangene pwa_266.010
Wirklichkeit der Aussenwelt zum Gegenstande ihrer Darstellung pwa_266.011
haben, sondern die Gesetze, die nur dem Geiste wahrnehmbar pwa_266.012
in beständiger Gegenwart und unveränderlich andauernd hinter pwa_266.013
und unter der beweglichen und vergehenden äusseren Wirklichkeit pwa_266.014
liegen. Die Geschichtsschreibung gehört also zur erzählenden Prosa: pwa_266.015
die Philosophie der Geschichte dagegen zur abhandelnden. Oder: die pwa_266.016
Naturgeschichte, wie man das Wort jetzt strenger zu nehmen pflegt, pwa_266.017
ist rein historisch: sie erzählt von der Bildung und Veränderung der pwa_266.018
Erde oder der ganzen Welt und dessen, was in und auf und mit ihr pwa_266.019
lebt; die Naturbeschreibung hält zwischen erzählender und abhandelnder, pwa_266.020
historischer und didactischer Prosa eine Mitte, da ihr Gegenstand pwa_266.021
zwar eine ruhende Wirklichkeit, aber eine Wirklichkeit der pwa_266.022
Aussenwelt und eine solche ist, die in der Darstellung den Anschein pwa_266.023
einer historischen Beweglichkeit gewinnen kann und soll: die Naturkunde pwa_266.024
dagegen ist rein abhandelnd: denn sie hat bloss von den unwandelbaren pwa_266.025
Gesetzen zu sprechen, von denen jene bewegte oder ruhende pwa_266.026
Wirklichkeit nur die äussere vergängliche Erscheinung ist. Und so pwa_266.027
fort. Trotz diesem wesentlichen Unterschiede kann man es dennoch pwa_266.028
der abhandelnden Prosa nicht verwehren, dass sie jezuweilen in die pwa_266.029
Erzählung oder Beschreibung hinüberstreife; es wird ihr auch in vielen pwa_266.030
Fällen unmöglich sein, anders zu verfahren. Namentlich ist naturwissenschaftlichen pwa_266.031
Werken diese Freiheit zu lassen: die Naturkunde pwa_266.032
wird fort und fort genöthigt sein, hier Glieder der Naturgeschichte, pwa_266.033
dort Glieder der Naturbeschreibung in sich aufzunehmen. An die pwa_266.034
Erinnerung also darf sich der abhandelnde Prosaiker sehr wohl wenden: pwa_266.035
denn nur diese eine Seite der Einbildungskraft wird bei solchem pwa_266.036
Verfahren in Mitwirkung gezogen; aber nicht an die selbständige und pwa_266.037
willkürlich schöpferische Phantasie und ebenso wenig an das sinnlich pwa_266.038
und sittlich reizbare Gefühl. Denn sein Ziel ist lediglich die volle pwa_266.039
unverkürzte Wahrheit, nicht aber das Gute als solches, nicht das pwa_266.040
Schöne, nicht das Edle und Anmuthige. Die abhandelnde Prosa soll pwa_266.041
nur überzeugen wollen, die Ueberredung dagegen durch Anregung
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