Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_324.001 pwa_324.022 pwa_324.001 pwa_324.022 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0342" n="324"/><lb n="pwa_324.001"/> gleichsam schnell und zierlich reitenden Poesie; es giebt aber auch <lb n="pwa_324.002"/> innerhalb der Poesie selbst einen <foreign xml:lang="grc">πεζὸς λόγος</foreign>, es wird z. B. die Darstellungsweise <lb n="pwa_324.003"/> der Comödie so genannt, gegenüber der hochtrabenden <lb n="pwa_324.004"/> Tragödie. Dieselbe Doppeldeutung hat der diesem griechischen Ausdrucke <lb n="pwa_324.005"/> nachgebildete lateinische <hi rendition="#i">oratio pedestris, sermo pedestris:</hi> er <lb n="pwa_324.006"/> gilt nicht bloss von der Prosa, Horaz gebraucht ihn auch vom Stil <lb n="pwa_324.007"/> der Comödie und von dem der Satire: <hi rendition="#i">sermo pedestris</hi> Ars poet. v. 95; <lb n="pwa_324.008"/> <hi rendition="#i">Musa pedestris</hi> Sat. 2, 6, 17. Uebrigens ist diese lateinische Benennung <lb n="pwa_324.009"/> den Römern selbst gar nicht so geläufig gewesen als den Neulateinern: <lb n="pwa_324.010"/> das sieht man aus einer Stelle Quintilians (10, 1, 81), wo er das Wort <lb n="pwa_324.011"/> nur gebraucht, indem er es zugleich als Uebersetzung bezeichnet und <lb n="pwa_324.012"/> auf das griechische Originalwort hinweist: „Multum (Plato) supra prosam <lb n="pwa_324.013"/> orationem et quam pedestrem Graeci vocant surgit.“ <hi rendition="#i">Prosa oratio,</hi> <lb n="pwa_324.014"/> eben diess ist der im Lateinischen gebräuchliche Name. <hi rendition="#i">Prosa,</hi> d. h. <lb n="pwa_324.015"/> <hi rendition="#i">prorsa, proversa,</hi> bezeichnet die Rede als die vorwärtsgehende, im <lb n="pwa_324.016"/> Gegensatz zur <hi rendition="#i">oratio vorsa,</hi> der poetischen Rede, welche in rhythmischer <lb n="pwa_324.017"/> Gliederung sich umwendet und gleichsam in sich selbst zurückkehrt. <lb n="pwa_324.018"/> Daneben wird die Prosa auch <hi rendition="#i">oratio soluta</hi> genannt, die entbundene, <lb n="pwa_324.019"/> die ungebunden freie (verba soluta modis Ovid. Trist. 4, <lb n="pwa_324.020"/> 10, 24), im Gegensatz zur <hi rendition="#i">oratio alligata metris.</hi> Wir sagen <hi rendition="#i">Prosa</hi> <lb n="pwa_324.021"/> oder <hi rendition="#i">ungebundene Rede.</hi> Vgl. S. 238.</p> <p><lb n="pwa_324.022"/> Also mit dem Stil der Prosa haben wir es hier zu thun, jedoch <lb n="pwa_324.023"/> nur insofern er die Form der verständigen Darstellung ist. Es gehören <lb n="pwa_324.024"/> somit nicht alle Prosaschriften hieher, sondern nur solche, deren <lb n="pwa_324.025"/> Inhalt ein wesentlich verständiger, deren Zweck ein lehrhafter ist. <lb n="pwa_324.026"/> Da ist demnach mancherlei von der Betrachtung auszuschliessen. <lb n="pwa_324.027"/> Zunächst und vor allem Andern die rednerische Prosa; denn deren <lb n="pwa_324.028"/> letzter und eigentlicher Zweck liegt nicht im Verstande, vielmehr im <lb n="pwa_324.029"/> Gemüth und im Willen der Zuhörer. Wenn auch der Redner um des <lb n="pwa_324.030"/> verständigen Elementes seiner Darstellung willen sich der prosaischen <lb n="pwa_324.031"/> Form bedienen muss, so darf diese doch nicht die gewöhnliche, bloss <lb n="pwa_324.032"/> verständige Prosa bleiben: die Einbildung und namentlich das Gefühl <lb n="pwa_324.033"/> wirken auf deren Gestaltung ein: seine Prosa ist die leidenschaftliche, <lb n="pwa_324.034"/> und als solche haben wir sie erst späterhin zu betrachten, wenn wir <lb n="pwa_324.035"/> zur dritten Gattung des Stils, zu der leidenschaftlichen Darstellungsweise <lb n="pwa_324.036"/> gelangen. Auszuschliessen ist ferner die Prosa des Romans, <lb n="pwa_324.037"/> nicht als besondere Gattung gleich der rednerischen Prosa, sondern <lb n="pwa_324.038"/> als eine Zwitterart zwischen prosaischer und poetischer Darstellung, <lb n="pwa_324.039"/> als blosse Abart und Ausartung der epischen Poesie. Der Roman hat <lb n="pwa_324.040"/> mit dem Epos Inhalt und Zweck gemein; er schöpft aus der Einbildung <lb n="pwa_324.041"/> und für die Einbildung; mit der Prosa theilt er nur die äussere </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [324/0342]
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gleichsam schnell und zierlich reitenden Poesie; es giebt aber auch pwa_324.002
innerhalb der Poesie selbst einen πεζὸς λόγος, es wird z. B. die Darstellungsweise pwa_324.003
der Comödie so genannt, gegenüber der hochtrabenden pwa_324.004
Tragödie. Dieselbe Doppeldeutung hat der diesem griechischen Ausdrucke pwa_324.005
nachgebildete lateinische oratio pedestris, sermo pedestris: er pwa_324.006
gilt nicht bloss von der Prosa, Horaz gebraucht ihn auch vom Stil pwa_324.007
der Comödie und von dem der Satire: sermo pedestris Ars poet. v. 95; pwa_324.008
Musa pedestris Sat. 2, 6, 17. Uebrigens ist diese lateinische Benennung pwa_324.009
den Römern selbst gar nicht so geläufig gewesen als den Neulateinern: pwa_324.010
das sieht man aus einer Stelle Quintilians (10, 1, 81), wo er das Wort pwa_324.011
nur gebraucht, indem er es zugleich als Uebersetzung bezeichnet und pwa_324.012
auf das griechische Originalwort hinweist: „Multum (Plato) supra prosam pwa_324.013
orationem et quam pedestrem Graeci vocant surgit.“ Prosa oratio, pwa_324.014
eben diess ist der im Lateinischen gebräuchliche Name. Prosa, d. h. pwa_324.015
prorsa, proversa, bezeichnet die Rede als die vorwärtsgehende, im pwa_324.016
Gegensatz zur oratio vorsa, der poetischen Rede, welche in rhythmischer pwa_324.017
Gliederung sich umwendet und gleichsam in sich selbst zurückkehrt. pwa_324.018
Daneben wird die Prosa auch oratio soluta genannt, die entbundene, pwa_324.019
die ungebunden freie (verba soluta modis Ovid. Trist. 4, pwa_324.020
10, 24), im Gegensatz zur oratio alligata metris. Wir sagen Prosa pwa_324.021
oder ungebundene Rede. Vgl. S. 238.
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Also mit dem Stil der Prosa haben wir es hier zu thun, jedoch pwa_324.023
nur insofern er die Form der verständigen Darstellung ist. Es gehören pwa_324.024
somit nicht alle Prosaschriften hieher, sondern nur solche, deren pwa_324.025
Inhalt ein wesentlich verständiger, deren Zweck ein lehrhafter ist. pwa_324.026
Da ist demnach mancherlei von der Betrachtung auszuschliessen. pwa_324.027
Zunächst und vor allem Andern die rednerische Prosa; denn deren pwa_324.028
letzter und eigentlicher Zweck liegt nicht im Verstande, vielmehr im pwa_324.029
Gemüth und im Willen der Zuhörer. Wenn auch der Redner um des pwa_324.030
verständigen Elementes seiner Darstellung willen sich der prosaischen pwa_324.031
Form bedienen muss, so darf diese doch nicht die gewöhnliche, bloss pwa_324.032
verständige Prosa bleiben: die Einbildung und namentlich das Gefühl pwa_324.033
wirken auf deren Gestaltung ein: seine Prosa ist die leidenschaftliche, pwa_324.034
und als solche haben wir sie erst späterhin zu betrachten, wenn wir pwa_324.035
zur dritten Gattung des Stils, zu der leidenschaftlichen Darstellungsweise pwa_324.036
gelangen. Auszuschliessen ist ferner die Prosa des Romans, pwa_324.037
nicht als besondere Gattung gleich der rednerischen Prosa, sondern pwa_324.038
als eine Zwitterart zwischen prosaischer und poetischer Darstellung, pwa_324.039
als blosse Abart und Ausartung der epischen Poesie. Der Roman hat pwa_324.040
mit dem Epos Inhalt und Zweck gemein; er schöpft aus der Einbildung pwa_324.041
und für die Einbildung; mit der Prosa theilt er nur die äussere
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