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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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das Wahre nur in so fern, als es zugleich und zu allervorderst schön pwa_369.002
ist. Des Schönen kann sich aber die Seele nur bemächtigen, indem pwa_369.003
sie es unter den Formen der sinnlichen Wirklichkeit anschaut; wogegen pwa_369.004
das Wahre von diesen Grenzen nicht eingeschlossen ist. Die Seelenkraft pwa_369.005
nun, die sich thätig zeigt, wo es das Gebiet der sinnlichen Wirklichkeit pwa_369.006
gilt, ist die Einbildung, die Einbildung in ihren zwei sich pwa_369.007
beständig durchkreuzenden und hilfreich ergänzenden Richtungen, der pwa_369.008
Phantasie und der Erinnerung: als Erinnerung entspricht sie dem Verstande, pwa_369.009
insofern er erfährt, als Phantasie, insofern er urtheilt. Es pwa_369.010
handelt sich hier also um Darstellung und Mittheilung auf dem Grunde pwa_369.011
der Einbildungskraft, um eine Production derselben auf Seiten des Darstellenden, pwa_369.012
um eine Reproduction durch eben dieselbe auf Seiten des pwa_369.013
Hörers oder Lesers. Diejenige sprachliche Darstellung nun, in welcher pwa_369.014
die Einbildung zur Einbildung spricht, heisst Poesie. Es liegt jedoch nicht pwa_369.015
die gesammte Poesie in dem Gebiete der Einbildung: an einer Gattung pwa_369.016
derselben hat, wie das früherhin (S. 120. 319) ist ausgeführt worden, das pwa_369.017
Gefühl vorwaltenden Antheil, an der Lyrik: somit bleiben uns zunächst pwa_369.018
für unsere jetzige Betrachtung nur die beiden anderen Hauptgattungen, pwa_369.019
das Epos und das Drama, das Epos, welches das Vergangene als pwa_369.020
vergangen erzählt, das Drama, welches das Vergangene als gegenwärtig pwa_369.021
darstellt. Soll aber diess Vergangene in seiner rechten sinnlichen pwa_369.022
Wirklichkeit gestaltet erscheinen und wiedergestaltet werden pwa_369.023
können, so muss die Art und Weise der Darstellung anschaulich sein, pwa_369.024
und es ist, wie vom prosaischen Stile des Verstandes Deutlichkeit pwa_369.025
gefordert wird, das characteristische Erforderniss für den poetischen pwa_369.026
Stil der Einbildung die Anschaulichkeit.

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Also Anschaulichkeit. Da gelten jedoch eine nähere Bestimmung pwa_369.028
und eine Einschränkung. Die Anschaulichkeit ist zwar das characteristische, pwa_369.029
ist das wesentliche und hauptsächliche Erforderniss des poetischen pwa_369.030
Stils, aber keinesweges das einzige und ausschliessliche. Wenn pwa_369.031
die Poesie auch zunächst und hauptsächlich auf der Einbildung beruht, pwa_369.032
so hat doch auch der Verstand an ihren Schöpfungen einen gewissen pwa_369.033
Antheil, zwar einen untergeordneten und mehr negativen, insofern er pwa_369.034
nur ordnet und wehrt und zügelt, aber doch immer einen Antheil. pwa_369.035
So nun auch in der Art und Weise der poetischen Darstellung, im pwa_369.036
poetischen Stil: Anschaulichkeit für die Einbildung ist freilich die pwa_369.037
Hauptsache: aber darum sind die Rechte des Verstandes, ist die pwa_369.038
Deutlichkeit nicht ausser Augen zu lassen: sie macht sich immer pwa_369.039
noch geltend, wenn schon in zweiter Linie, mehr implicite als pwa_369.040
explicite, und bei der einen Art des poetischen Stils mehr als bei pwa_369.041
der anderen.

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das Wahre nur in so fern, als es zugleich und zu allervorderst schön pwa_369.002
ist. Des Schönen kann sich aber die Seele nur bemächtigen, indem pwa_369.003
sie es unter den Formen der sinnlichen Wirklichkeit anschaut; wogegen pwa_369.004
das Wahre von diesen Grenzen nicht eingeschlossen ist. Die Seelenkraft pwa_369.005
nun, die sich thätig zeigt, wo es das Gebiet der sinnlichen Wirklichkeit pwa_369.006
gilt, ist die Einbildung, die Einbildung in ihren zwei sich pwa_369.007
beständig durchkreuzenden und hilfreich ergänzenden Richtungen, der pwa_369.008
Phantasie und der Erinnerung: als Erinnerung entspricht sie dem Verstande, pwa_369.009
insofern er erfährt, als Phantasie, insofern er urtheilt. Es pwa_369.010
handelt sich hier also um Darstellung und Mittheilung auf dem Grunde pwa_369.011
der Einbildungskraft, um eine Production derselben auf Seiten des Darstellenden, pwa_369.012
um eine Reproduction durch eben dieselbe auf Seiten des pwa_369.013
Hörers oder Lesers. Diejenige sprachliche Darstellung nun, in welcher pwa_369.014
die Einbildung zur Einbildung spricht, heisst Poesie. Es liegt jedoch nicht pwa_369.015
die gesammte Poesie in dem Gebiete der Einbildung: an einer Gattung pwa_369.016
derselben hat, wie das früherhin (S. 120. 319) ist ausgeführt worden, das pwa_369.017
Gefühl vorwaltenden Antheil, an der Lyrik: somit bleiben uns zunächst pwa_369.018
für unsere jetzige Betrachtung nur die beiden anderen Hauptgattungen, pwa_369.019
das Epos und das Drama, das Epos, welches das Vergangene als pwa_369.020
vergangen erzählt, das Drama, welches das Vergangene als gegenwärtig pwa_369.021
darstellt. Soll aber diess Vergangene in seiner rechten sinnlichen pwa_369.022
Wirklichkeit gestaltet erscheinen und wiedergestaltet werden pwa_369.023
können, so muss die Art und Weise der Darstellung anschaulich sein, pwa_369.024
und es ist, wie vom prosaischen Stile des Verstandes Deutlichkeit pwa_369.025
gefordert wird, das characteristische Erforderniss für den poetischen pwa_369.026
Stil der Einbildung die Anschaulichkeit.

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Also Anschaulichkeit. Da gelten jedoch eine nähere Bestimmung pwa_369.028
und eine Einschränkung. Die Anschaulichkeit ist zwar das characteristische, pwa_369.029
ist das wesentliche und hauptsächliche Erforderniss des poetischen pwa_369.030
Stils, aber keinesweges das einzige und ausschliessliche. Wenn pwa_369.031
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so hat doch auch der Verstand an ihren Schöpfungen einen gewissen pwa_369.033
Antheil, zwar einen untergeordneten und mehr negativen, insofern er pwa_369.034
nur ordnet und wehrt und zügelt, aber doch immer einen Antheil. pwa_369.035
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Deutlichkeit nicht ausser Augen zu lassen: sie macht sich immer pwa_369.039
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/387>, abgerufen am 22.11.2024.