Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_371.001 pwa_371.003 pwa_371.005 pwa_371.009 pwa_371.001 pwa_371.003 pwa_371.005 pwa_371.009 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0389" n="371"/><lb n="pwa_371.001"/> greifen noch um vieles mehr als die komische Poesie rückwärts hinüber <lb n="pwa_371.002"/> in das Gebiet der blossen verständigen Deutlichkeit.</p> <p><lb n="pwa_371.003"/> Wir wollen jetzt jenes allgemeine Gesetz der Anschaulichkeit mit <lb n="pwa_371.004"/> Rücksicht auf die angedeuteten Einschränkungen des Näheren ausführen.</p> <p><lb n="pwa_371.005"/> Anschaulichkeit wird durch zwei einander nah verwandte und in <lb n="pwa_371.006"/> einander fliessende Mittel erreicht, durch <hi rendition="#i">Sinnlichkeit</hi> und durch <hi rendition="#i">Lebendigkeit</hi> <lb n="pwa_371.007"/> des Ausdrucks: jene gilt für die Wahl der Worte, diese für <lb n="pwa_371.008"/> die Anordnung derselben.</p> <p><lb n="pwa_371.009"/> Was nun zuerst die <hi rendition="#b">Sinnlichkeit</hi> in der <hi rendition="#b">Wahl der Worte</hi> betrifft, <lb n="pwa_371.010"/> so zeigt sich gleich hier der Unterschied der poetischen Darstellung <lb n="pwa_371.011"/> von der prosaischen auf das Schärfste und Bestimmteste und in den <lb n="pwa_371.012"/> mannigfaltigsten Beziehungen ausgeprägt. Die Prosa ist durch die <lb n="pwa_371.013"/> Aufgabe der Deutlichkeit überall auf die zunächst liegenden und auf <lb n="pwa_371.014"/> die gangbaren Worte angewiesen: sie giebt nirgend einen bildlichen, <lb n="pwa_371.015"/> nirgend einen uneigentlichen Ausdruck, sondern immer nur den ganz <lb n="pwa_371.016"/> eigentlich bezeichnenden und unbildlichen: sie lässt daher abstracte Begriffe <lb n="pwa_371.017"/> auch in der Art und Weise der Darstellung abstract; sie verschmäht <lb n="pwa_371.018"/> den Barbarismus, den Gebrauch fremder Worte nicht, insoweit er ein <lb n="pwa_371.019"/> wohlgeeignetes Mittel ist, eben abstracte Begriffe auch recht abstract zu <lb n="pwa_371.020"/> bezeichnen; sie vermeidet dagegen den Neologismus, da neugeschaffene <lb n="pwa_371.021"/> Worte gewöhnlich zu viel sinnliche Bildlichkeit besitzen und mithin mehr <lb n="pwa_371.022"/> die Einbildung als den Verstand ansprechen; sie vermeidet den Archaismus <lb n="pwa_371.023"/> und den Provincialismus, die Anwendung veralteter und mundartlicher <lb n="pwa_371.024"/> Wörter, weil diese nicht auf der gewohnten und gebahnten Strasse <lb n="pwa_371.025"/> der angenommenen Schriftsprache liegen. Das ist Alles anders in der <lb n="pwa_371.026"/> Poesie. Sie verschmäht das, worauf die Prosa ausgeht, und geht auf <lb n="pwa_371.027"/> dasselbe aus, was jene verschmäht. Ihr kommt es vor Allem auf das <lb n="pwa_371.028"/> Concrete an, auf sinnlichen Eindruck, auf sinnliche Fasslichkeit. Wo <lb n="pwa_371.029"/> sie abstracte Begriffe in sich aufzunehmen hat, werden dieselben auch <lb n="pwa_371.030"/> gleich durch irgend eine bildliche Wendung versinnlicht, werden sie <lb n="pwa_371.031"/> durch die Art und Weise der Auffassung und Darstellung zu concreten <lb n="pwa_371.032"/> gemacht. Alles, was unsinnlich ist, ist ihr auch zuwider: deshalb vermeidet <lb n="pwa_371.033"/> sie auch die fremden Worte überhaupt, besonders aber wiederum <lb n="pwa_371.034"/> die, welche abstracte Begriffe ausdrücken. Diese sind ihr doppelt <lb n="pwa_371.035"/> untauglich, einmal weil es Worte von abstracter Bedeutung, dann <lb n="pwa_371.036"/> weil sie in der Fremdheit ihrer Laute doch nur todte Zeichen für diese <lb n="pwa_371.037"/> Bedeutung sind: von intuitiver Perception und dergleichen kann ein <lb n="pwa_371.038"/> Dichter nicht wohl reden; andere Fremdworte mag sich die Poesie eher <lb n="pwa_371.039"/> gestatten, aber auch nur, sobald sie irgendwelche Sinnlichkeit und <lb n="pwa_371.040"/> Bildlichkeit mit sich führen, wie z. B. Legionen der Engel, wo die <lb n="pwa_371.041"/> Anspielung, die in dem fremden Begriff und Worte liegt, zur Versinnlichung </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [371/0389]
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greifen noch um vieles mehr als die komische Poesie rückwärts hinüber pwa_371.002
in das Gebiet der blossen verständigen Deutlichkeit.
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Wir wollen jetzt jenes allgemeine Gesetz der Anschaulichkeit mit pwa_371.004
Rücksicht auf die angedeuteten Einschränkungen des Näheren ausführen.
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Anschaulichkeit wird durch zwei einander nah verwandte und in pwa_371.006
einander fliessende Mittel erreicht, durch Sinnlichkeit und durch Lebendigkeit pwa_371.007
des Ausdrucks: jene gilt für die Wahl der Worte, diese für pwa_371.008
die Anordnung derselben.
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Was nun zuerst die Sinnlichkeit in der Wahl der Worte betrifft, pwa_371.010
so zeigt sich gleich hier der Unterschied der poetischen Darstellung pwa_371.011
von der prosaischen auf das Schärfste und Bestimmteste und in den pwa_371.012
mannigfaltigsten Beziehungen ausgeprägt. Die Prosa ist durch die pwa_371.013
Aufgabe der Deutlichkeit überall auf die zunächst liegenden und auf pwa_371.014
die gangbaren Worte angewiesen: sie giebt nirgend einen bildlichen, pwa_371.015
nirgend einen uneigentlichen Ausdruck, sondern immer nur den ganz pwa_371.016
eigentlich bezeichnenden und unbildlichen: sie lässt daher abstracte Begriffe pwa_371.017
auch in der Art und Weise der Darstellung abstract; sie verschmäht pwa_371.018
den Barbarismus, den Gebrauch fremder Worte nicht, insoweit er ein pwa_371.019
wohlgeeignetes Mittel ist, eben abstracte Begriffe auch recht abstract zu pwa_371.020
bezeichnen; sie vermeidet dagegen den Neologismus, da neugeschaffene pwa_371.021
Worte gewöhnlich zu viel sinnliche Bildlichkeit besitzen und mithin mehr pwa_371.022
die Einbildung als den Verstand ansprechen; sie vermeidet den Archaismus pwa_371.023
und den Provincialismus, die Anwendung veralteter und mundartlicher pwa_371.024
Wörter, weil diese nicht auf der gewohnten und gebahnten Strasse pwa_371.025
der angenommenen Schriftsprache liegen. Das ist Alles anders in der pwa_371.026
Poesie. Sie verschmäht das, worauf die Prosa ausgeht, und geht auf pwa_371.027
dasselbe aus, was jene verschmäht. Ihr kommt es vor Allem auf das pwa_371.028
Concrete an, auf sinnlichen Eindruck, auf sinnliche Fasslichkeit. Wo pwa_371.029
sie abstracte Begriffe in sich aufzunehmen hat, werden dieselben auch pwa_371.030
gleich durch irgend eine bildliche Wendung versinnlicht, werden sie pwa_371.031
durch die Art und Weise der Auffassung und Darstellung zu concreten pwa_371.032
gemacht. Alles, was unsinnlich ist, ist ihr auch zuwider: deshalb vermeidet pwa_371.033
sie auch die fremden Worte überhaupt, besonders aber wiederum pwa_371.034
die, welche abstracte Begriffe ausdrücken. Diese sind ihr doppelt pwa_371.035
untauglich, einmal weil es Worte von abstracter Bedeutung, dann pwa_371.036
weil sie in der Fremdheit ihrer Laute doch nur todte Zeichen für diese pwa_371.037
Bedeutung sind: von intuitiver Perception und dergleichen kann ein pwa_371.038
Dichter nicht wohl reden; andere Fremdworte mag sich die Poesie eher pwa_371.039
gestatten, aber auch nur, sobald sie irgendwelche Sinnlichkeit und pwa_371.040
Bildlichkeit mit sich führen, wie z. B. Legionen der Engel, wo die pwa_371.041
Anspielung, die in dem fremden Begriff und Worte liegt, zur Versinnlichung
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