Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_401.001 pwa_401.009 pwa_401.031 pwa_401.036 pwa_401.001 pwa_401.009 pwa_401.031 pwa_401.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0419" n="401"/><lb n="pwa_401.001"/> bezeichnet sie auch, da er eben immer ein Infinitivus praesens ist, im <lb n="pwa_401.002"/> Allgemeinen als eine gegenwärtige; aber einen bestimmten Zeitpunct <lb n="pwa_401.003"/> und eine bestimmte Dauer setzt er nicht fest, weder in dieser Gegenwart, <lb n="pwa_401.004"/> noch gar in der Vergangenheit; er drückt eben nur ein Geschehen <lb n="pwa_401.005"/> aus, aber kein Wann und Wie lange dieses Geschehens; er enthebt das <lb n="pwa_401.006"/> vergangene Factum allem Wechsel und allen Schranken der Zeit und <lb n="pwa_401.007"/> macht es zum Gegenstande der Schilderung, für die es keine zeitliche <lb n="pwa_401.008"/> Abgrenzung giebt. Beispiel bei Cic. pro Rosc. Am. 38, § 110.</p> <p><lb n="pwa_401.009"/> Die deutsche Sprache, und sie vorzüglich und mehr als andere <lb n="pwa_401.010"/> Sprachen, liebt es, auch das <hi rendition="#b">Futurum</hi> gegen das <hi rendition="#b">Praesens</hi> zu vertauschen, <lb n="pwa_401.011"/> also die Zukunft in die Gegenwart zu rücken, das noch <lb n="pwa_401.012"/> Ungewisse als gewiss zu behaupten, das noch ganz Unschaubare schon <lb n="pwa_401.013"/> in gegenwärtiger Anschaulichkeit aufzufassen. Indessen diese Vertauschung <lb n="pwa_401.014"/> ist so gewöhnlich, dass man sie kaum mehr zu den Tropen <lb n="pwa_401.015"/> rechnen darf. Die deutsche Sprache hat eben nie ein rechtes Futurum <lb n="pwa_401.016"/> besessen, sie hat diese Zeitstufe immer nur durch Umschreibungen <lb n="pwa_401.017"/> bezeichnen können, im Gothischen zuweilen durch <hi rendition="#i">haben</hi> mit dem <lb n="pwa_401.018"/> Infinitiv, wie in den romanischen Sprachen (dirai), im Althochdeutschen <lb n="pwa_401.019"/> durch <hi rendition="#i">sollen,</hi> wie im Englischen, später durch <hi rendition="#i">werden</hi> mit dem Participium <lb n="pwa_401.020"/> praesentis, woraus erst nach und nach durch Entstellung auch <lb n="pwa_401.021"/> ein Infinitiv geworden ist. Am geläufigsten aber ist der älteren Sprache, <lb n="pwa_401.022"/> wie noch jetzt der einfachen des gewöhnlichen Lebens, das blosse <lb n="pwa_401.023"/> Praesens im Sinne des Futurums, und es giebt ganze, grosse altdeutsche <lb n="pwa_401.024"/> Schriften, in denen kein einziges umschriebenes Futurum <lb n="pwa_401.025"/> vorkommt, so z. B. die zahlreichen umfassenden Uebersetzungswerke <lb n="pwa_401.026"/> der Sanctgaller. Im Psalm 28 z. B. übersetzt Notker die Worte: Et <lb n="pwa_401.027"/> in templo eius omnes dicent gloriam durch: Vnde in sînero chilichun <lb n="pwa_401.028"/> sagent sie alle sîna guôllichi. Et sedebit dominus rex in aeternum: <lb n="pwa_401.029"/> Vnde dara nâh sizzet er rîchesondo iêmer. Dominus virtutem populo <lb n="pwa_401.030"/> suo dabit: Truhten gibet herti sînemo liûte (LB. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 292).</p> <p><lb n="pwa_401.031"/> Jetzt endlich sind noch einige Tropen, es sind ihrer vier, zusammenzustellen, <lb n="pwa_401.032"/> die auch ihrem Wesen nach enge zusammengehören, und <lb n="pwa_401.033"/> die, da an ihnen nicht bloss die Einbildung Antheil hat, auch in die <lb n="pwa_401.034"/> prosaische Sprache, die Sprache des Verstandes und die alltägliche <lb n="pwa_401.035"/> Rede übergreifen.</p> <p><lb n="pwa_401.036"/> Zuerst die <hi rendition="#b">Hyperbel,</hi> <foreign xml:lang="grc">ὑπερβολή</foreign>, d. h. Uebertreibung, Vergrösserung <lb n="pwa_401.037"/> über die Wahrheit hinaus. Eines der ältesten Beispiele aus der deutschen <lb n="pwa_401.038"/> Litteratur wird in der Sanctgallischen Rhetorik (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 136. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 314) <lb n="pwa_401.039"/> angeführt: von einem Eber heisst es, er habe Füsse einem Fuder an <lb n="pwa_401.040"/> Grösse gleich, Borsten so hoch wie Forsten und Zähne zwölf Ellen <lb n="pwa_401.041"/> lang (imo sint fûoʒe fûodermâʒe, imo sint burste eben hô forste, unde </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [401/0419]
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bezeichnet sie auch, da er eben immer ein Infinitivus praesens ist, im pwa_401.002
Allgemeinen als eine gegenwärtige; aber einen bestimmten Zeitpunct pwa_401.003
und eine bestimmte Dauer setzt er nicht fest, weder in dieser Gegenwart, pwa_401.004
noch gar in der Vergangenheit; er drückt eben nur ein Geschehen pwa_401.005
aus, aber kein Wann und Wie lange dieses Geschehens; er enthebt das pwa_401.006
vergangene Factum allem Wechsel und allen Schranken der Zeit und pwa_401.007
macht es zum Gegenstande der Schilderung, für die es keine zeitliche pwa_401.008
Abgrenzung giebt. Beispiel bei Cic. pro Rosc. Am. 38, § 110.
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Die deutsche Sprache, und sie vorzüglich und mehr als andere pwa_401.010
Sprachen, liebt es, auch das Futurum gegen das Praesens zu vertauschen, pwa_401.011
also die Zukunft in die Gegenwart zu rücken, das noch pwa_401.012
Ungewisse als gewiss zu behaupten, das noch ganz Unschaubare schon pwa_401.013
in gegenwärtiger Anschaulichkeit aufzufassen. Indessen diese Vertauschung pwa_401.014
ist so gewöhnlich, dass man sie kaum mehr zu den Tropen pwa_401.015
rechnen darf. Die deutsche Sprache hat eben nie ein rechtes Futurum pwa_401.016
besessen, sie hat diese Zeitstufe immer nur durch Umschreibungen pwa_401.017
bezeichnen können, im Gothischen zuweilen durch haben mit dem pwa_401.018
Infinitiv, wie in den romanischen Sprachen (dirai), im Althochdeutschen pwa_401.019
durch sollen, wie im Englischen, später durch werden mit dem Participium pwa_401.020
praesentis, woraus erst nach und nach durch Entstellung auch pwa_401.021
ein Infinitiv geworden ist. Am geläufigsten aber ist der älteren Sprache, pwa_401.022
wie noch jetzt der einfachen des gewöhnlichen Lebens, das blosse pwa_401.023
Praesens im Sinne des Futurums, und es giebt ganze, grosse altdeutsche pwa_401.024
Schriften, in denen kein einziges umschriebenes Futurum pwa_401.025
vorkommt, so z. B. die zahlreichen umfassenden Uebersetzungswerke pwa_401.026
der Sanctgaller. Im Psalm 28 z. B. übersetzt Notker die Worte: Et pwa_401.027
in templo eius omnes dicent gloriam durch: Vnde in sînero chilichun pwa_401.028
sagent sie alle sîna guôllichi. Et sedebit dominus rex in aeternum: pwa_401.029
Vnde dara nâh sizzet er rîchesondo iêmer. Dominus virtutem populo pwa_401.030
suo dabit: Truhten gibet herti sînemo liûte (LB. 15, 292).
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Jetzt endlich sind noch einige Tropen, es sind ihrer vier, zusammenzustellen, pwa_401.032
die auch ihrem Wesen nach enge zusammengehören, und pwa_401.033
die, da an ihnen nicht bloss die Einbildung Antheil hat, auch in die pwa_401.034
prosaische Sprache, die Sprache des Verstandes und die alltägliche pwa_401.035
Rede übergreifen.
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Zuerst die Hyperbel, ὑπερβολή, d. h. Uebertreibung, Vergrösserung pwa_401.037
über die Wahrheit hinaus. Eines der ältesten Beispiele aus der deutschen pwa_401.038
Litteratur wird in der Sanctgallischen Rhetorik (LB. 14, 136. 15, 314) pwa_401.039
angeführt: von einem Eber heisst es, er habe Füsse einem Fuder an pwa_401.040
Grösse gleich, Borsten so hoch wie Forsten und Zähne zwölf Ellen pwa_401.041
lang (imo sint fûoʒe fûodermâʒe, imo sint burste eben hô forste, unde
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