Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wagner, Heinrich Leopold: Die Kindermörderinn. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite


Fr. Marthan. Behüt und bewahre! da käm
sie ja ins Tollhaus! -- weiß sie was, Jung-
fer --
Evchen. Spricht sie mit mir, Frau Marthan?
Fr. Marthan. Mit wem sonst? -- Soll ich
sie etwa nit Jungfer heißen? Kurios! -- gehn
so viele vornehme und geringe in der Stadt herum,
die schon drey, vier so Puppelchen in der Kost ha-
ben, thäten einem die Augen auskratzen, oder gar
einen Jurienprozeß an Hals hängen, wenn man
sie nit hinten und vornen Jungfern hieß! -- Jch
glaub aber, Gott verzeih mirs, sie ist gar nit wie
ander Leut. -- Was geschehn ist, ist geschehn,
da hilft kein Greinen und kein Jammern! und ein
Kind, so denk ich, ist doch immer besser als ein
Kalb: -- kann sie nicht gleich wieder einen Platz
als Stubenmädchen bekommen, so will ich sie als
Säugamm rekummediren --
Evchen. Hätt ich Milch für den Wurm!
Fr. Marthan. Wie ists möglich? wo soll sie
herkommen? seit den fünf Wochen, daß sie bey mir
ist, hat sie, Gott verzeih mirs! glaub ich, ein Ohm
Wasser zu den Augen heraus geweint; und dar-
nach, wenn man nichts ißt und trinkt -- ich will
doch wärli nit hoffen, daß es ihr etwa nit gut
genug ist? -- wer's Geringe nit will, ists Gute
nit werth: -- gelt! den Teller voll Fleischsuppe,
den ich ihr vorgestern Abends hinstellte, weil ich
gestern im Taglohn wäschen mußt, warum hat sie
ihn nicht gewärmt und gegessen? Gott weiß, ich
hab
G 3


Fr. Marthan. Behuͤt und bewahre! da kaͤm
ſie ja ins Tollhaus! — weiß ſie was, Jung-
fer —
Evchen. Spricht ſie mit mir, Frau Marthan?
Fr. Marthan. Mit wem ſonſt? — Soll ich
ſie etwa nit Jungfer heißen? Kurios! — gehn
ſo viele vornehme und geringe in der Stadt herum,
die ſchon drey, vier ſo Puppelchen in der Koſt ha-
ben, thaͤten einem die Augen auskratzen, oder gar
einen Jurienprozeß an Hals haͤngen, wenn man
ſie nit hinten und vornen Jungfern hieß! — Jch
glaub aber, Gott verzeih mirs, ſie iſt gar nit wie
ander Leut. — Was geſchehn iſt, iſt geſchehn,
da hilft kein Greinen und kein Jammern! und ein
Kind, ſo denk ich, iſt doch immer beſſer als ein
Kalb: — kann ſie nicht gleich wieder einen Platz
als Stubenmaͤdchen bekommen, ſo will ich ſie als
Saͤugamm rekummediren —
Evchen. Haͤtt ich Milch fuͤr den Wurm!
Fr. Marthan. Wie iſts moͤglich? wo ſoll ſie
herkommen? ſeit den fuͤnf Wochen, daß ſie bey mir
iſt, hat ſie, Gott verzeih mirs! glaub ich, ein Ohm
Waſſer zu den Augen heraus geweint; und dar-
nach, wenn man nichts ißt und trinkt — ich will
doch waͤrli nit hoffen, daß es ihr etwa nit gut
genug iſt? — wer’s Geringe nit will, iſts Gute
nit werth: — gelt! den Teller voll Fleiſchſuppe,
den ich ihr vorgeſtern Abends hinſtellte, weil ich
geſtern im Taglohn waͤſchen mußt, warum hat ſie
ihn nicht gewaͤrmt und gegeſſen? Gott weiß, ich
hab
G 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0103" n="101"/>
        <fw place="top" type="header">
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </fw>
        <sp who="#MART">
          <speaker> <hi rendition="#b">Fr. Marthan.</hi> </speaker>
          <p>Behu&#x0364;t und bewahre! da ka&#x0364;m<lb/>
&#x017F;ie ja ins Tollhaus! &#x2014; weiß &#x017F;ie was, Jung-<lb/>
fer &#x2014;</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#EHUM">
          <speaker> <hi rendition="#b">Evchen.</hi> </speaker>
          <p>Spricht &#x017F;ie mit mir, Frau Marthan?</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#MART">
          <speaker> <hi rendition="#b">Fr. Marthan.</hi> </speaker>
          <p>Mit wem &#x017F;on&#x017F;t? &#x2014; Soll ich<lb/>
&#x017F;ie etwa nit Jungfer heißen? Kurios! &#x2014; gehn<lb/>
&#x017F;o viele vornehme und geringe in der Stadt herum,<lb/>
die &#x017F;chon drey, vier &#x017F;o Puppelchen in der Ko&#x017F;t ha-<lb/>
ben, tha&#x0364;ten einem die Augen auskratzen, oder gar<lb/>
einen Jurienprozeß an Hals ha&#x0364;ngen, wenn man<lb/>
&#x017F;ie nit hinten und vornen Jungfern hieß! &#x2014; Jch<lb/>
glaub aber, Gott verzeih mirs, &#x017F;ie i&#x017F;t gar nit wie<lb/>
ander Leut. &#x2014; Was ge&#x017F;chehn i&#x017F;t, i&#x017F;t ge&#x017F;chehn,<lb/>
da hilft kein Greinen und kein Jammern! und ein<lb/>
Kind, &#x017F;o denk ich, i&#x017F;t doch immer be&#x017F;&#x017F;er als ein<lb/>
Kalb: &#x2014; kann &#x017F;ie nicht gleich wieder einen Platz<lb/>
als Stubenma&#x0364;dchen bekommen, &#x017F;o will ich &#x017F;ie als<lb/>
Sa&#x0364;ugamm rekummediren &#x2014;</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#EHUM">
          <speaker> <hi rendition="#b">Evchen.</hi> </speaker>
          <p>Ha&#x0364;tt ich Milch fu&#x0364;r <hi rendition="#fr">den</hi> Wurm!</p>
        </sp><lb/>
        <sp who="#MART">
          <speaker> <hi rendition="#b">Fr. Marthan.</hi> </speaker>
          <p>Wie i&#x017F;ts mo&#x0364;glich? wo &#x017F;oll &#x017F;ie<lb/>
herkommen? &#x017F;eit den fu&#x0364;nf Wochen, daß &#x017F;ie bey mir<lb/>
i&#x017F;t, hat &#x017F;ie, Gott verzeih mirs! glaub ich, ein Ohm<lb/>
Wa&#x017F;&#x017F;er zu den Augen heraus geweint; und dar-<lb/>
nach, wenn man nichts ißt und trinkt &#x2014; ich will<lb/>
doch wa&#x0364;rli nit hoffen, daß es ihr etwa nit gut<lb/>
genug i&#x017F;t? &#x2014; wer&#x2019;s Geringe nit will, i&#x017F;ts Gute<lb/>
nit werth: &#x2014; gelt! den Teller voll Flei&#x017F;ch&#x017F;uppe,<lb/>
den ich ihr vorge&#x017F;tern Abends hin&#x017F;tellte, weil ich<lb/>
ge&#x017F;tern im Taglohn wa&#x0364;&#x017F;chen mußt, warum hat &#x017F;ie<lb/>
ihn nicht gewa&#x0364;rmt und gege&#x017F;&#x017F;en? Gott weiß, ich<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G 3</fw><fw place="bottom" type="catch">hab</fw><lb/></p>
        </sp>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[101/0103] Fr. Marthan. Behuͤt und bewahre! da kaͤm ſie ja ins Tollhaus! — weiß ſie was, Jung- fer — Evchen. Spricht ſie mit mir, Frau Marthan? Fr. Marthan. Mit wem ſonſt? — Soll ich ſie etwa nit Jungfer heißen? Kurios! — gehn ſo viele vornehme und geringe in der Stadt herum, die ſchon drey, vier ſo Puppelchen in der Koſt ha- ben, thaͤten einem die Augen auskratzen, oder gar einen Jurienprozeß an Hals haͤngen, wenn man ſie nit hinten und vornen Jungfern hieß! — Jch glaub aber, Gott verzeih mirs, ſie iſt gar nit wie ander Leut. — Was geſchehn iſt, iſt geſchehn, da hilft kein Greinen und kein Jammern! und ein Kind, ſo denk ich, iſt doch immer beſſer als ein Kalb: — kann ſie nicht gleich wieder einen Platz als Stubenmaͤdchen bekommen, ſo will ich ſie als Saͤugamm rekummediren — Evchen. Haͤtt ich Milch fuͤr den Wurm! Fr. Marthan. Wie iſts moͤglich? wo ſoll ſie herkommen? ſeit den fuͤnf Wochen, daß ſie bey mir iſt, hat ſie, Gott verzeih mirs! glaub ich, ein Ohm Waſſer zu den Augen heraus geweint; und dar- nach, wenn man nichts ißt und trinkt — ich will doch waͤrli nit hoffen, daß es ihr etwa nit gut genug iſt? — wer’s Geringe nit will, iſts Gute nit werth: — gelt! den Teller voll Fleiſchſuppe, den ich ihr vorgeſtern Abends hinſtellte, weil ich geſtern im Taglohn waͤſchen mußt, warum hat ſie ihn nicht gewaͤrmt und gegeſſen? Gott weiß, ich hab G 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_kindermoerderin_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_kindermoerderin_1776/103
Zitationshilfe: Wagner, Heinrich Leopold: Die Kindermörderinn. Leipzig, 1776, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_kindermoerderin_1776/103>, abgerufen am 27.11.2024.