Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850.

Bild:
<< vorherige Seite

gemeinschaftlich abging. Das ihnen gemeinsame Schöpfe¬
rische war aber -- das Bedürfniß, und wo dieses in
wahrhafter, naturnothwendiger Kraft sich äußert, da ver¬
mag der Mensch auch das Unmögliche um es zu befriedi¬
gen: aus der Armuth wird Fülle aus dem Mangel Ueber¬
fluß; die ungeschlachte Gestalt des schlichten Volks¬
komödianten spricht in Heldengebärden, der rauhe Klang
der Alltagssprache wird tönende Seelenmusik, das rohe
mit Teppichen umhangene Brettergerüst wird zur Welt¬
bühne mit all ihren reichen Scenen. Nehmen wir dieß
Kunstwerk aus der Fülle glücklicher Bedingungen hinweg,
stellen wir es außerhalb des Bereiches zeugender Kraft,
wie sie aus dem Bedürfnisse dieser einen, gerade so
gegebenen Zeitperiode hervorging, -- so sehen wir aber
zu unsrer Trauer, daß die Armuth doch nur Armuth,
der Mangel doch nur Mangel war; daß Shakspeare wohl
der gewaltigste Dichter aller Zeiten, sein Kunstwerk aber
noch nicht das Werk für alle Zeiten war, -- daß, nicht sein
Genius, wohl aber der unvollendete, nur wollende, noch nicht
aber könnende künstlerische Geist seiner Zeit, ihn doch nur zum
Thespis der Tragödie der Zukunft machte. Wie der
Karren des Thespis, in dem geringen Zeitumfange der
athenischen Kunstblüthe, sich zu der Bühne des Aeschylos
und Sophokles verhält, so verhält sich die Bühne Shake¬
speare's, in dem ungemessenen Zeitraume der allgemein¬

gemeinſchaftlich abging. Das ihnen gemeinſame Schöpfe¬
riſche war aber — das Bedürfniß, und wo dieſes in
wahrhafter, naturnothwendiger Kraft ſich äußert, da ver¬
mag der Menſch auch das Unmögliche um es zu befriedi¬
gen: aus der Armuth wird Fülle aus dem Mangel Ueber¬
fluß; die ungeſchlachte Geſtalt des ſchlichten Volks¬
komödianten ſpricht in Heldengebärden, der rauhe Klang
der Alltagsſprache wird tönende Seelenmuſik, das rohe
mit Teppichen umhangene Brettergerüſt wird zur Welt¬
bühne mit all ihren reichen Scenen. Nehmen wir dieß
Kunſtwerk aus der Fülle glücklicher Bedingungen hinweg,
ſtellen wir es außerhalb des Bereiches zeugender Kraft,
wie ſie aus dem Bedürfniſſe dieſer einen, gerade ſo
gegebenen Zeitperiode hervorging, — ſo ſehen wir aber
zu unſrer Trauer, daß die Armuth doch nur Armuth,
der Mangel doch nur Mangel war; daß Shakſpeare wohl
der gewaltigſte Dichter aller Zeiten, ſein Kunſtwerk aber
noch nicht das Werk für alle Zeiten war, — daß, nicht ſein
Genius, wohl aber der unvollendete, nur wollende, noch nicht
aber könnende künſtleriſche Geiſt ſeiner Zeit, ihn doch nur zum
Theſpis der Tragödie der Zukunft machte. Wie der
Karren des Theſpis, in dem geringen Zeitumfange der
atheniſchen Kunſtblüthe, ſich zu der Bühne des Aeſchylos
und Sophokles verhält, ſo verhält ſich die Bühne Shake¬
ſpeare's, in dem ungemeſſenen Zeitraume der allgemein¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0132" n="116"/>
gemein&#x017F;chaftlich abging. Das ihnen gemein&#x017F;ame Schöpfe¬<lb/>
ri&#x017F;che war aber &#x2014; <hi rendition="#g">das Bedürfniß</hi>, und wo die&#x017F;es in<lb/>
wahrhafter, naturnothwendiger Kraft &#x017F;ich äußert, da ver¬<lb/>
mag der Men&#x017F;ch auch das Unmögliche um es zu befriedi¬<lb/>
gen: aus der Armuth wird Fülle aus dem Mangel Ueber¬<lb/>
fluß; die unge&#x017F;chlachte Ge&#x017F;talt des &#x017F;chlichten Volks¬<lb/>
komödianten &#x017F;pricht in Heldengebärden, der rauhe Klang<lb/>
der Alltags&#x017F;prache wird tönende Seelenmu&#x017F;ik, das rohe<lb/>
mit Teppichen umhangene Brettergerü&#x017F;t wird zur Welt¬<lb/>
bühne mit all ihren reichen Scenen. Nehmen wir dieß<lb/>
Kun&#x017F;twerk aus der Fülle glücklicher Bedingungen hinweg,<lb/>
&#x017F;tellen wir es außerhalb des Bereiches zeugender Kraft,<lb/>
wie &#x017F;ie aus dem Bedürfni&#x017F;&#x017F;e die&#x017F;er einen, gerade &#x017F;o<lb/>
gegebenen Zeitperiode hervorging, &#x2014; &#x017F;o &#x017F;ehen wir aber<lb/>
zu un&#x017F;rer Trauer, daß die Armuth doch nur Armuth,<lb/>
der Mangel doch nur Mangel war; daß Shak&#x017F;peare wohl<lb/>
der gewaltig&#x017F;te Dichter aller Zeiten, &#x017F;ein Kun&#x017F;twerk aber<lb/>
noch nicht das Werk für alle Zeiten war, &#x2014; daß, nicht &#x017F;ein<lb/>
Genius, wohl aber der unvollendete, nur wollende, noch nicht<lb/>
aber könnende kün&#x017F;tleri&#x017F;che Gei&#x017F;t &#x017F;einer Zeit, ihn doch nur zum<lb/><hi rendition="#g">The&#x017F;pis der Tragödie der Zukunft</hi> machte. Wie der<lb/>
Karren des The&#x017F;pis, in dem geringen Zeitumfange der<lb/>
atheni&#x017F;chen Kun&#x017F;tblüthe, &#x017F;ich zu der Bühne des Ae&#x017F;chylos<lb/>
und Sophokles verhält, &#x017F;o verhält &#x017F;ich die Bühne Shake¬<lb/>
&#x017F;peare's, in dem ungeme&#x017F;&#x017F;enen Zeitraume der allgemein¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[116/0132] gemeinſchaftlich abging. Das ihnen gemeinſame Schöpfe¬ riſche war aber — das Bedürfniß, und wo dieſes in wahrhafter, naturnothwendiger Kraft ſich äußert, da ver¬ mag der Menſch auch das Unmögliche um es zu befriedi¬ gen: aus der Armuth wird Fülle aus dem Mangel Ueber¬ fluß; die ungeſchlachte Geſtalt des ſchlichten Volks¬ komödianten ſpricht in Heldengebärden, der rauhe Klang der Alltagsſprache wird tönende Seelenmuſik, das rohe mit Teppichen umhangene Brettergerüſt wird zur Welt¬ bühne mit all ihren reichen Scenen. Nehmen wir dieß Kunſtwerk aus der Fülle glücklicher Bedingungen hinweg, ſtellen wir es außerhalb des Bereiches zeugender Kraft, wie ſie aus dem Bedürfniſſe dieſer einen, gerade ſo gegebenen Zeitperiode hervorging, — ſo ſehen wir aber zu unſrer Trauer, daß die Armuth doch nur Armuth, der Mangel doch nur Mangel war; daß Shakſpeare wohl der gewaltigſte Dichter aller Zeiten, ſein Kunſtwerk aber noch nicht das Werk für alle Zeiten war, — daß, nicht ſein Genius, wohl aber der unvollendete, nur wollende, noch nicht aber könnende künſtleriſche Geiſt ſeiner Zeit, ihn doch nur zum Theſpis der Tragödie der Zukunft machte. Wie der Karren des Theſpis, in dem geringen Zeitumfange der atheniſchen Kunſtblüthe, ſich zu der Bühne des Aeſchylos und Sophokles verhält, ſo verhält ſich die Bühne Shake¬ ſpeare's, in dem ungemeſſenen Zeitraume der allgemein¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/132
Zitationshilfe: Wagner, Richard: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig, 1850, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wagner_zukunft_1850/132>, abgerufen am 27.11.2024.