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Walter, Marie: Das Frauenstimmrecht. Zürich, 1913.

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Das Streben nach der Ergründung des geschichtlichen Ge-
schehens, nach der Erfassung der organischen Zusammenhänge im
Welt- und Menschenleben, lüftet Schleier um Schleier und löst all-
mählich auch das Dunkel, das über den Uranfängen der Mensch-
heit gelagert. Aus seltsamen, bis in die Neuzeit unverstandenen
und unrichtig gedeuteten Erscheinungen in Sitten und Gebräu-
chen mancher wilden Völkerstämme leuchten blitzende Lichter auf,
die ungeahnte neue Erkenntniswerte aufzeigen.

Als erster, welcher eine geschichtliche Entwicklung der Familie
nachzuweisen versuchte, ist der Schweizer Bachofen zu nennen. Bis
zum Anfang der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts lehnte
die historische Wissenschaft sich auf diesem Gebiete an die fünf
Bücher Moses an. Danach galt die patriarchalische Familienform
als die älteste und allein bestehende, die sich bis in unsere Tage in
der bürgerlichen Familie forterhalten hat. Bachofens Mutterrecht,
das 1861 erschien, bedeutete eine vollständige Revolution jener ver-
knöcherten Anschauung. An Hand von zahllosen, der altklassischen
Literatur entnommenen Stellen trug er mit Bienenfleiß die Be-
weise für die Richtigkeit seiner von ihm ausgestellten Leitsätze und
Behauptungen zusammen. Jndessen - ihn erreichte das Geschick so
manchen Forschergeistes: er blieb unbekannt.

Vier Jahre später (1865) trat ohne Kenntnis des Bachofen-
schen Werkes ein Engländer, Mac Lennan, mit einem Buche an
die Oeffentlichkeit: "Studies in Ancient History". Die zum Teil
auf recht gewagten Kombinationen fußenden theoretischen Er-
örterungen des nüchternen Juristen fanden in England lebhaften
Anklang. Er galt hier allgemein als erste Autorität, als der
eigentliche Begründer der Geschichte der Familie und das noch
geraume Zeit nach dem entscheidenden Auftreten Morgans.

Dieser, ein Amerikaner, versuchte in seinem Hauptwerk: "An-
cient Society" (Urgesellschaft) 1877, seine 1871 noch unklar erfaßten
Entdeckungen über die "mutterrechtliche" Familienform in ihrer
urgeschichtlichen Bedeutung auseinanderzulegen. Das bei den
Jrokesen, den amerikanischen Jndianern, noch in Anwendung ste-
hende eigentümliche Verwandtschaftssystem bildete den Ausgangs-
punkt zu wertvollen Schlußfolgerungen. Das Studium jener Ver-
hältnisse und anderer bei verschiedenen asiatischen, vor allem indi-
schen, Völkerstämmen geltenden Verwandtschaftssysteme, ermöglichte
ihm die Rekonstruierung der entsprechenden Familienformen. Da-
mit war für den Forschungsweg eine weite Perspektive in die Vor-
geschichte der Menschheit eröffnet. Das Hauptverdienst Morgans
aber liegt darin, daß er jene Familienform entdeckte, jene nach
Mutterrecht organisierte Geschlechtsgemeinschaft, aus der sich die
spätere vaterrechtlich organisierte Familiengemeinschaft oder Gens
der antiken Kulturvölker entwickelte.

Das Streben nach der Ergründung des geschichtlichen Ge-
schehens, nach der Erfassung der organischen Zusammenhänge im
Welt- und Menschenleben, lüftet Schleier um Schleier und löst all-
mählich auch das Dunkel, das über den Uranfängen der Mensch-
heit gelagert. Aus seltsamen, bis in die Neuzeit unverstandenen
und unrichtig gedeuteten Erscheinungen in Sitten und Gebräu-
chen mancher wilden Völkerstämme leuchten blitzende Lichter auf,
die ungeahnte neue Erkenntniswerte aufzeigen.

Als erster, welcher eine geschichtliche Entwicklung der Familie
nachzuweisen versuchte, ist der Schweizer Bachofen zu nennen. Bis
zum Anfang der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts lehnte
die historische Wissenschaft sich auf diesem Gebiete an die fünf
Bücher Moses an. Danach galt die patriarchalische Familienform
als die älteste und allein bestehende, die sich bis in unsere Tage in
der bürgerlichen Familie forterhalten hat. Bachofens Mutterrecht,
das 1861 erschien, bedeutete eine vollständige Revolution jener ver-
knöcherten Anschauung. An Hand von zahllosen, der altklassischen
Literatur entnommenen Stellen trug er mit Bienenfleiß die Be-
weise für die Richtigkeit seiner von ihm ausgestellten Leitsätze und
Behauptungen zusammen. Jndessen – ihn erreichte das Geschick so
manchen Forschergeistes: er blieb unbekannt.

Vier Jahre später (1865) trat ohne Kenntnis des Bachofen-
schen Werkes ein Engländer, Mac Lennan, mit einem Buche an
die Oeffentlichkeit: „Studies in Ancient History“. Die zum Teil
auf recht gewagten Kombinationen fußenden theoretischen Er-
örterungen des nüchternen Juristen fanden in England lebhaften
Anklang. Er galt hier allgemein als erste Autorität, als der
eigentliche Begründer der Geschichte der Familie und das noch
geraume Zeit nach dem entscheidenden Auftreten Morgans.

Dieser, ein Amerikaner, versuchte in seinem Hauptwerk: „An-
cient Society“ (Urgesellschaft) 1877, seine 1871 noch unklar erfaßten
Entdeckungen über die „mutterrechtliche“ Familienform in ihrer
urgeschichtlichen Bedeutung auseinanderzulegen. Das bei den
Jrokesen, den amerikanischen Jndianern, noch in Anwendung ste-
hende eigentümliche Verwandtschaftssystem bildete den Ausgangs-
punkt zu wertvollen Schlußfolgerungen. Das Studium jener Ver-
hältnisse und anderer bei verschiedenen asiatischen, vor allem indi-
schen, Völkerstämmen geltenden Verwandtschaftssysteme, ermöglichte
ihm die Rekonstruierung der entsprechenden Familienformen. Da-
mit war für den Forschungsweg eine weite Perspektive in die Vor-
geschichte der Menschheit eröffnet. Das Hauptverdienst Morgans
aber liegt darin, daß er jene Familienform entdeckte, jene nach
Mutterrecht organisierte Geschlechtsgemeinschaft, aus der sich die
spätere vaterrechtlich organisierte Familiengemeinschaft oder Gens
der antiken Kulturvölker entwickelte.

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[3/0003] Das Streben nach der Ergründung des geschichtlichen Ge- schehens, nach der Erfassung der organischen Zusammenhänge im Welt- und Menschenleben, lüftet Schleier um Schleier und löst all- mählich auch das Dunkel, das über den Uranfängen der Mensch- heit gelagert. Aus seltsamen, bis in die Neuzeit unverstandenen und unrichtig gedeuteten Erscheinungen in Sitten und Gebräu- chen mancher wilden Völkerstämme leuchten blitzende Lichter auf, die ungeahnte neue Erkenntniswerte aufzeigen. Als erster, welcher eine geschichtliche Entwicklung der Familie nachzuweisen versuchte, ist der Schweizer Bachofen zu nennen. Bis zum Anfang der Sechzigerjahre des vorigen Jahrhunderts lehnte die historische Wissenschaft sich auf diesem Gebiete an die fünf Bücher Moses an. Danach galt die patriarchalische Familienform als die älteste und allein bestehende, die sich bis in unsere Tage in der bürgerlichen Familie forterhalten hat. Bachofens Mutterrecht, das 1861 erschien, bedeutete eine vollständige Revolution jener ver- knöcherten Anschauung. An Hand von zahllosen, der altklassischen Literatur entnommenen Stellen trug er mit Bienenfleiß die Be- weise für die Richtigkeit seiner von ihm ausgestellten Leitsätze und Behauptungen zusammen. Jndessen – ihn erreichte das Geschick so manchen Forschergeistes: er blieb unbekannt. Vier Jahre später (1865) trat ohne Kenntnis des Bachofen- schen Werkes ein Engländer, Mac Lennan, mit einem Buche an die Oeffentlichkeit: „Studies in Ancient History“. Die zum Teil auf recht gewagten Kombinationen fußenden theoretischen Er- örterungen des nüchternen Juristen fanden in England lebhaften Anklang. Er galt hier allgemein als erste Autorität, als der eigentliche Begründer der Geschichte der Familie und das noch geraume Zeit nach dem entscheidenden Auftreten Morgans. Dieser, ein Amerikaner, versuchte in seinem Hauptwerk: „An- cient Society“ (Urgesellschaft) 1877, seine 1871 noch unklar erfaßten Entdeckungen über die „mutterrechtliche“ Familienform in ihrer urgeschichtlichen Bedeutung auseinanderzulegen. Das bei den Jrokesen, den amerikanischen Jndianern, noch in Anwendung ste- hende eigentümliche Verwandtschaftssystem bildete den Ausgangs- punkt zu wertvollen Schlußfolgerungen. Das Studium jener Ver- hältnisse und anderer bei verschiedenen asiatischen, vor allem indi- schen, Völkerstämmen geltenden Verwandtschaftssysteme, ermöglichte ihm die Rekonstruierung der entsprechenden Familienformen. Da- mit war für den Forschungsweg eine weite Perspektive in die Vor- geschichte der Menschheit eröffnet. Das Hauptverdienst Morgans aber liegt darin, daß er jene Familienform entdeckte, jene nach Mutterrecht organisierte Geschlechtsgemeinschaft, aus der sich die spätere vaterrechtlich organisierte Familiengemeinschaft oder Gens der antiken Kulturvölker entwickelte.

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2018-04-10T14:18:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2018-04-10T14:18:39Z)

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Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: gekennzeichnet; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




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Zitationshilfe: Walter, Marie: Das Frauenstimmrecht. Zürich, 1913, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/walter_frauenstimmrecht_1913/3>, abgerufen am 27.04.2024.