Weber, Max: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Freiburg (Breisgau) u. a., 1895.erfolgstrunkene und friedensdurstige Geschlecht des deutschen Schaut uns nicht eben jetzt, wohin wir blicken im Vater- Nur allzu offenkundig sehnt sich ein Teil des Großbürgertums erfolgſtrunkene und friedensdurſtige Geſchlecht des deutſchen Schaut uns nicht eben jetzt, wohin wir blicken im Vater- Nur allzu offenkundig ſehnt ſich ein Teil des Großbürgertums <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0035" n="29"/> erfolgſtrunkene und friedensdurſtige Geſchlecht des deutſchen<lb/> Bürgertums ein eigenartig „unhiſtoriſcher“ und unpolitiſcher<lb/> Geiſt. Die deutſche Geſchichte ſchien zu Ende. Die Gegenwart<lb/> war die volle Erfüllung der vergangenen Jahrtauſende, – wer<lb/> wollte fragen, ob die Zukunft anders urteilen möchte? Die<lb/> Beſcheidenheit verbot ja – ſo ſchien es – der Weltgeſchichte,<lb/> zur Tagesordnung ihres alltäglichen Verlaufes überzugehen über<lb/> dieſe Erfolge der deutſchen Nation. Heute ſind wir nüchtern<lb/> geworden, es ziemt uns der Verſuch, den Schleier der Jlluſionen<lb/> zu lüften, der uns die Stellung unſerer Generation in der<lb/> hiſtoriſchen Entwicklung des Vaterlandes verhüllt. Und es ſcheint<lb/> mir, daß wir dann anders urteilen. An unſerer Wiege ſtand<lb/> der ſchwerſte Fluch, den die Geſchichte einem Geſchlecht als An-<lb/> gebinde mit auf den Weg zu geben vermag: das harte Schickſal<lb/> des politiſchen <hi rendition="#g">Epigonentums</hi>.</p><lb/> <p>Schaut uns nicht eben jetzt, wohin wir blicken im Vater-<lb/> land, ſein kümmerliches Antlitz entgegen? Jn den Vorgängen<lb/> der letzten Monate, welche bürgerliche Politiker in erſter Reihe<lb/> zu verantworten haben, in allzu Vielem, was in den letzten<lb/> Tagen im deutſchen Parlament und in Manchem, was zu ihm<lb/> geſprochen wurde, erkannten diejenigen von uns, denen die<lb/> Fähigkeit des Haſſes gegen das Kleine geblieben iſt, mit der<lb/> Leidenſchaft zorniger Trauer das kleinliche Treiben politiſcher<lb/> Epigonen. Die gewaltige Sonne, welche im Zenith Deutſchlands<lb/> ſtand und den deutſchen Namen in die fernſten Winkel der<lb/> Erde leuchten ließ, war, ſo ſcheint es faſt, zu groß für uns<lb/> und hat die langſam ſich entwickelnde politiſche Urteilsfähigkeit<lb/> des Bürgertums ausgebrannt. Denn was erleben wir an ihm?</p><lb/> <p>Nur allzu offenkundig ſehnt ſich ein Teil des Großbürgertums<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [29/0035]
erfolgſtrunkene und friedensdurſtige Geſchlecht des deutſchen
Bürgertums ein eigenartig „unhiſtoriſcher“ und unpolitiſcher
Geiſt. Die deutſche Geſchichte ſchien zu Ende. Die Gegenwart
war die volle Erfüllung der vergangenen Jahrtauſende, – wer
wollte fragen, ob die Zukunft anders urteilen möchte? Die
Beſcheidenheit verbot ja – ſo ſchien es – der Weltgeſchichte,
zur Tagesordnung ihres alltäglichen Verlaufes überzugehen über
dieſe Erfolge der deutſchen Nation. Heute ſind wir nüchtern
geworden, es ziemt uns der Verſuch, den Schleier der Jlluſionen
zu lüften, der uns die Stellung unſerer Generation in der
hiſtoriſchen Entwicklung des Vaterlandes verhüllt. Und es ſcheint
mir, daß wir dann anders urteilen. An unſerer Wiege ſtand
der ſchwerſte Fluch, den die Geſchichte einem Geſchlecht als An-
gebinde mit auf den Weg zu geben vermag: das harte Schickſal
des politiſchen Epigonentums.
Schaut uns nicht eben jetzt, wohin wir blicken im Vater-
land, ſein kümmerliches Antlitz entgegen? Jn den Vorgängen
der letzten Monate, welche bürgerliche Politiker in erſter Reihe
zu verantworten haben, in allzu Vielem, was in den letzten
Tagen im deutſchen Parlament und in Manchem, was zu ihm
geſprochen wurde, erkannten diejenigen von uns, denen die
Fähigkeit des Haſſes gegen das Kleine geblieben iſt, mit der
Leidenſchaft zorniger Trauer das kleinliche Treiben politiſcher
Epigonen. Die gewaltige Sonne, welche im Zenith Deutſchlands
ſtand und den deutſchen Namen in die fernſten Winkel der
Erde leuchten ließ, war, ſo ſcheint es faſt, zu groß für uns
und hat die langſam ſich entwickelnde politiſche Urteilsfähigkeit
des Bürgertums ausgebrannt. Denn was erleben wir an ihm?
Nur allzu offenkundig ſehnt ſich ein Teil des Großbürgertums
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Zitationshilfe: | Weber, Max: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Freiburg (Breisgau) u. a., 1895, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weber_nationalstaat_1895/35>, abgerufen am 16.07.2024. |