Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.
schon sechsmal nichts gekonnt; dreimal im Griechischen, zweimal bei Knochenbruch; das letztemal in der Literaturgeschichte. Ich war erst fünfmal in der bedauernswerthen Lage; und von heute ab kommt es überhaupt nicht mehr vor! -- Röbel erschießt sich nicht. Röbel hat keine Eltern, die ihm ihr Alles opfern. Er kann, wann er will, Söldner, Kawboy oder Matrose werden. Wenn ich durchfalle, rührt meinen Vater der Schlag und Mama kommt in's Irrenhaus. So was erlebt man nicht! -- Vor dem Examen habe ich zu Gott gefleht, er möge mich schwindsüchtig werden lassen, auf daß der Kelch ungenossen vorübergehe. Er ging vorüber -- wenngleich mir auch heute noch seine Aureole aus der Ferne entgegenleuchtet, daß ich Tag und Nacht den Blick nicht zu heben wage. -- Aber nun ich die Stange erfaßt, werde ich mich auch hinaufschwingen. Dafür bürgt mir die unabänderliche Consequenz, daß ich nicht stürze ohne das Genick zu brechen. Melchior. Das Leben ist von einer ungeahnten Gemeinheit. Ich hätte nicht übel Lust, mich in die Zweige zu hängen. -- Wo Mama mit dem Thee nur bleibt! Moritz. Dein Thee wird mir gut thun, Melchior! -- Ich zitt're nämlich. Ich fühle mich so eigenthümlich vergeistert. Betaste mich bitte mal. Ich sehe -- ich höre -- ich fühle viel deutlicher -- und doch alles so traumhaft -- o so stimmungs- voll. -- Wie sich dort im Mondschein der Garten dehnt, so still, so tief als ging er in's Unendliche. -- Unter den Büschen treten umflorte Gestalten hervor, huschen in athemloser Geschäftigkeit über die Lichtungen und verschwinden im Halbdunkel. Mir scheint, unter dem Kastanienbaum soll eine Rathsversammlung gehalten werden. -- Wollen wir nicht hinunter, Melchior? Melchior. Warten wir, bis wir Thee getrunken. Moritz. -- Die Blätter flüstern so emsig. -- Es ist als hörte ich Großmutter selig die Geschichte von der "Königin ohne
ſchon ſechsmal nichts gekonnt; dreimal im Griechiſchen, zweimal bei Knochenbruch; das letztemal in der Literaturgeſchichte. Ich war erſt fünfmal in der bedauernswerthen Lage; und von heute ab kommt es überhaupt nicht mehr vor! — Röbel erſchießt ſich nicht. Röbel hat keine Eltern, die ihm ihr Alles opfern. Er kann, wann er will, Söldner, Kawboy oder Matroſe werden. Wenn ich durchfalle, rührt meinen Vater der Schlag und Mama kommt in's Irrenhaus. So was erlebt man nicht! — Vor dem Examen habe ich zu Gott gefleht, er möge mich ſchwindſüchtig werden laſſen, auf daß der Kelch ungenoſſen vorübergehe. Er ging vorüber — wenngleich mir auch heute noch ſeine Aureole aus der Ferne entgegenleuchtet, daß ich Tag und Nacht den Blick nicht zu heben wage. — Aber nun ich die Stange erfaßt, werde ich mich auch hinaufſchwingen. Dafür bürgt mir die unabänderliche Conſequenz, daß ich nicht ſtürze ohne das Genick zu brechen. Melchior. Das Leben iſt von einer ungeahnten Gemeinheit. Ich hätte nicht übel Luſt, mich in die Zweige zu hängen. — Wo Mama mit dem Thee nur bleibt! Moritz. Dein Thee wird mir gut thun, Melchior! — Ich zitt're nämlich. Ich fühle mich ſo eigenthümlich vergeiſtert. Betaſte mich bitte mal. Ich ſehe — ich höre — ich fühle viel deutlicher — und doch alles ſo traumhaft — o ſo ſtimmungs- voll. — Wie ſich dort im Mondſchein der Garten dehnt, ſo ſtill, ſo tief als ging er in's Unendliche. — Unter den Büſchen treten umflorte Geſtalten hervor, huſchen in athemloſer Geſchäftigkeit über die Lichtungen und verſchwinden im Halbdunkel. Mir ſcheint, unter dem Kaſtanienbaum ſoll eine Rathsverſammlung gehalten werden. — Wollen wir nicht hinunter, Melchior? Melchior. Warten wir, bis wir Thee getrunken. Moritz. — Die Blätter flüſtern ſo emſig. — Es iſt als hörte ich Großmutter ſelig die Geſchichte von der „Königin ohne <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <sp who="#MOR"> <p><pb facs="#f0042" n="26"/> ſchon ſechsmal nichts gekonnt; dreimal im Griechiſchen, zweimal<lb/> bei Knochenbruch; das letztemal in der Literaturgeſchichte. Ich war<lb/> erſt fünfmal in der bedauernswerthen Lage; und von heute ab<lb/> kommt es überhaupt nicht mehr vor! — Röbel erſchießt ſich nicht.<lb/> Röbel hat keine Eltern, die ihm ihr Alles opfern. Er kann,<lb/> wann er will, Söldner, Kawboy oder Matroſe werden. Wenn<lb/><hi rendition="#g">ich</hi> durchfalle, rührt meinen Vater der Schlag und Mama kommt<lb/> in's Irrenhaus. So was erlebt man nicht! — Vor dem Examen<lb/> habe ich zu Gott gefleht, er möge mich ſchwindſüchtig werden<lb/> laſſen, auf daß der Kelch ungenoſſen vorübergehe. Er ging<lb/> vorüber — wenngleich mir auch heute noch ſeine Aureole aus<lb/> der Ferne entgegenleuchtet, daß ich Tag und Nacht den Blick nicht<lb/> zu heben wage. — Aber nun ich die Stange erfaßt, werde ich<lb/> mich auch hinaufſchwingen. Dafür bürgt mir die unabänderliche<lb/> Conſequenz, daß ich nicht ſtürze ohne das Genick zu brechen.</p> </sp><lb/> <sp who="#MEL"> <speaker><hi rendition="#g">Melchior</hi>.</speaker> <p>Das Leben iſt von einer ungeahnten Gemeinheit.<lb/> Ich hätte nicht übel Luſt, mich in die Zweige zu hängen. — Wo<lb/> Mama mit dem Thee nur bleibt!</p> </sp><lb/> <sp who="#MOR"> <speaker><hi rendition="#g">Moritz</hi>.</speaker> <p>Dein Thee wird mir gut thun, Melchior! — Ich<lb/> zitt're nämlich. Ich fühle mich ſo eigenthümlich vergeiſtert.<lb/> Betaſte mich bitte mal. Ich ſehe — ich höre — ich fühle viel<lb/> deutlicher — und doch alles ſo traumhaft — o ſo ſtimmungs-<lb/> voll. — Wie ſich dort im Mondſchein der Garten dehnt, ſo ſtill,<lb/> ſo tief als ging er in's Unendliche. — Unter den Büſchen treten<lb/> umflorte Geſtalten hervor, huſchen in athemloſer Geſchäftigkeit<lb/> über die Lichtungen und verſchwinden im Halbdunkel. Mir ſcheint,<lb/> unter dem Kaſtanienbaum ſoll eine Rathsverſammlung gehalten<lb/> werden. — Wollen wir nicht hinunter, Melchior?</p> </sp><lb/> <sp who="#MEL"> <speaker><hi rendition="#g">Melchior</hi>.</speaker> <p>Warten wir, bis wir Thee getrunken.</p> </sp><lb/> <sp who="#MOR"> <speaker><hi rendition="#g">Moritz</hi>.</speaker> <p>— Die Blätter flüſtern ſo emſig. — Es iſt als<lb/> hörte ich Großmutter ſelig die Geſchichte von der „Königin ohne<lb/></p> </sp> </div> </div> </body> </text> </TEI> [26/0042]
ſchon ſechsmal nichts gekonnt; dreimal im Griechiſchen, zweimal
bei Knochenbruch; das letztemal in der Literaturgeſchichte. Ich war
erſt fünfmal in der bedauernswerthen Lage; und von heute ab
kommt es überhaupt nicht mehr vor! — Röbel erſchießt ſich nicht.
Röbel hat keine Eltern, die ihm ihr Alles opfern. Er kann,
wann er will, Söldner, Kawboy oder Matroſe werden. Wenn
ich durchfalle, rührt meinen Vater der Schlag und Mama kommt
in's Irrenhaus. So was erlebt man nicht! — Vor dem Examen
habe ich zu Gott gefleht, er möge mich ſchwindſüchtig werden
laſſen, auf daß der Kelch ungenoſſen vorübergehe. Er ging
vorüber — wenngleich mir auch heute noch ſeine Aureole aus
der Ferne entgegenleuchtet, daß ich Tag und Nacht den Blick nicht
zu heben wage. — Aber nun ich die Stange erfaßt, werde ich
mich auch hinaufſchwingen. Dafür bürgt mir die unabänderliche
Conſequenz, daß ich nicht ſtürze ohne das Genick zu brechen.
Melchior. Das Leben iſt von einer ungeahnten Gemeinheit.
Ich hätte nicht übel Luſt, mich in die Zweige zu hängen. — Wo
Mama mit dem Thee nur bleibt!
Moritz. Dein Thee wird mir gut thun, Melchior! — Ich
zitt're nämlich. Ich fühle mich ſo eigenthümlich vergeiſtert.
Betaſte mich bitte mal. Ich ſehe — ich höre — ich fühle viel
deutlicher — und doch alles ſo traumhaft — o ſo ſtimmungs-
voll. — Wie ſich dort im Mondſchein der Garten dehnt, ſo ſtill,
ſo tief als ging er in's Unendliche. — Unter den Büſchen treten
umflorte Geſtalten hervor, huſchen in athemloſer Geſchäftigkeit
über die Lichtungen und verſchwinden im Halbdunkel. Mir ſcheint,
unter dem Kaſtanienbaum ſoll eine Rathsverſammlung gehalten
werden. — Wollen wir nicht hinunter, Melchior?
Melchior. Warten wir, bis wir Thee getrunken.
Moritz. — Die Blätter flüſtern ſo emſig. — Es iſt als
hörte ich Großmutter ſelig die Geſchichte von der „Königin ohne
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