Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. Zürich, 1891.
wissen. Du magst theoretisch vollkommen im Rechte sein. Aber ich kann mir mein einziges Kind nicht gewaltsam in den Tod jagen lassen! Herr Gabor. Das hängt nicht von uns ab, Fanny. -- Das ist ein Risiko, das wir mit unserem Glück auf uns genommen. Wer zu schwach für den Marsch ist, bleibt am Wege. Und es ist schließlich das Schlimmste nicht, wenn das Unausbleibliche zeitig kommt. Möge uns der Himmel davor behüten! Unsere Pflicht ist es, den Wankenden zu festigen, so lange die Vernunft Mittel weiß. -- Daß man ihn aus der Schule gejagt, ist nicht seine Schuld. Wenn man ihn nicht aus der Schule gejagt hätte, es wäre auch seine Schuld nicht! -- Du bist zu leichtherzig. Du erblickst vorwitzige Tändelei, wo es sich um Grundschäden des Charakters handelt. Ihr Frauen seid nicht berufen, über solche Dinge zu urtheilen. Wer das schreiben kann, was Melchior schreibt, der muß im innersten Kern seines Wesens angefault sein. Das Mark ist ergriffen. Eine halbwegs gesunde Natur läßt sich zu so etwas nicht herbei. Wir sind alle keine Heiligen; jeder von uns irrt vom schnurgeraden Pfad ab. Seine Schrift hingegen vertritt das Prinzip. Seine Schrift entspricht keinem zufälligen gelegentlichen Fehltritt; sie dokumentirt mit schauder- erregender Deutlichkeit den aufrichtig gehegten Vorsatz, jene natürliche Veranlagung, jenen Hang zum Unmoralischen, weil es das Unmoralische ist. Seine Schrift manifestirt jene exceptionelle geistige Corruption, die wir Juristen mit dem Ausdruck "moralischer Irrsinn" bezeichnen. -- Ob sich gegen seinen Zu- stand etwas ausrichten läßt, vermag ich nicht zu sagen. Wenn wir uns einen Hoffnungsschimmer bewahren wollen, und in erster Linie unser fleckenloses Gewissen als die Eltern des Betreffenden, so ist es Zeit für uns, mit Entschiedenheit und mit allem Ernste an's Werk zu gehen. -- Laß uns nicht länger streiten, Fanny! Ich fühle wie schwer es dir wird. Ich weiß, daß du ihn vergötterst,
wiſſen. Du magſt theoretiſch vollkommen im Rechte ſein. Aber ich kann mir mein einziges Kind nicht gewaltſam in den Tod jagen laſſen! Herr Gabor. Das hängt nicht von uns ab, Fanny. — Das iſt ein Riſiko, das wir mit unſerem Glück auf uns genommen. Wer zu ſchwach für den Marſch iſt, bleibt am Wege. Und es iſt ſchließlich das Schlimmſte nicht, wenn das Unausbleibliche zeitig kommt. Möge uns der Himmel davor behüten! Unſere Pflicht iſt es, den Wankenden zu feſtigen, ſo lange die Vernunft Mittel weiß. — Daß man ihn aus der Schule gejagt, iſt nicht ſeine Schuld. Wenn man ihn nicht aus der Schule gejagt hätte, es wäre auch ſeine Schuld nicht! — Du biſt zu leichtherzig. Du erblickſt vorwitzige Tändelei, wo es ſich um Grundſchäden des Charakters handelt. Ihr Frauen ſeid nicht berufen, über ſolche Dinge zu urtheilen. Wer das ſchreiben kann, was Melchior ſchreibt, der muß im innerſten Kern ſeines Weſens angefault ſein. Das Mark iſt ergriffen. Eine halbwegs geſunde Natur läßt ſich zu ſo etwas nicht herbei. Wir ſind alle keine Heiligen; jeder von uns irrt vom ſchnurgeraden Pfad ab. Seine Schrift hingegen vertritt das Prinzip. Seine Schrift entſpricht keinem zufälligen gelegentlichen Fehltritt; ſie dokumentirt mit ſchauder- erregender Deutlichkeit den aufrichtig gehegten Vorſatz, jene natürliche Veranlagung, jenen Hang zum Unmoraliſchen, weil es das Unmoraliſche iſt. Seine Schrift manifeſtirt jene exceptionelle geiſtige Corruption, die wir Juriſten mit dem Ausdruck „moraliſcher Irrſinn“ bezeichnen. — Ob ſich gegen ſeinen Zu- ſtand etwas ausrichten läßt, vermag ich nicht zu ſagen. Wenn wir uns einen Hoffnungsſchimmer bewahren wollen, und in erſter Linie unſer fleckenloſes Gewiſſen als die Eltern des Betreffenden, ſo iſt es Zeit für uns, mit Entſchiedenheit und mit allem Ernſte an's Werk zu gehen. — Laß uns nicht länger ſtreiten, Fanny! Ich fühle wie ſchwer es dir wird. Ich weiß, daß du ihn vergötterſt, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <sp who="#FRG"> <p><pb facs="#f0079" n="63"/> wiſſen. Du magſt theoretiſch vollkommen im Rechte ſein. Aber<lb/> ich kann mir mein einziges Kind nicht gewaltſam in den Tod<lb/> jagen laſſen!</p> </sp><lb/> <sp who="#HER"> <speaker><hi rendition="#g">Herr Gabor</hi>.</speaker> <p>Das hängt nicht von uns ab, Fanny. —<lb/> Das iſt ein Riſiko, das wir mit unſerem Glück auf <choice><sic>uus</sic><corr>uns</corr></choice> genommen.<lb/> Wer zu ſchwach für den Marſch iſt, bleibt am Wege. Und es<lb/> iſt ſchließlich das Schlimmſte nicht, wenn das Unausbleibliche<lb/> zeitig kommt. Möge uns der Himmel davor behüten! Unſere<lb/> Pflicht iſt es, den Wankenden zu feſtigen, ſo lange die Vernunft<lb/> Mittel weiß. — Daß man ihn aus der Schule gejagt, iſt nicht<lb/> ſeine Schuld. Wenn man ihn <hi rendition="#g">nicht</hi> aus der Schule gejagt hätte,<lb/> es wäre auch ſeine Schuld nicht! — Du biſt zu leichtherzig. Du<lb/> erblickſt vorwitzige Tändelei, wo es ſich um Grundſchäden des<lb/> Charakters handelt. Ihr Frauen ſeid nicht berufen, über ſolche<lb/> Dinge zu urtheilen. Wer <hi rendition="#g">das</hi> ſchreiben kann, was Melchior<lb/> ſchreibt, der muß im innerſten Kern ſeines Weſens angefault<lb/> ſein. Das Mark iſt ergriffen. Eine halbwegs geſunde Natur<lb/> läßt ſich zu ſo etwas nicht herbei. Wir ſind alle keine Heiligen;<lb/> jeder von uns irrt vom ſchnurgeraden Pfad ab. Seine Schrift<lb/> hingegen vertritt das <hi rendition="#g">Prinzip</hi>. Seine Schrift entſpricht keinem<lb/> zufälligen gelegentlichen Fehltritt; ſie dokumentirt mit ſchauder-<lb/> erregender Deutlichkeit den aufrichtig gehegten <hi rendition="#g">Vorſatz</hi>, jene<lb/> natürliche Veranlagung, jenen Hang zum <hi rendition="#g">Unmoraliſchen</hi>,<lb/> weil es das Unmoraliſche iſt. Seine Schrift manifeſtirt jene<lb/> exceptionelle geiſtige Corruption, die wir Juriſten mit dem Ausdruck<lb/> „<hi rendition="#g">moraliſcher Irrſinn</hi>“ bezeichnen. — Ob ſich gegen ſeinen Zu-<lb/> ſtand etwas ausrichten läßt, vermag ich nicht zu ſagen. <hi rendition="#g">Wenn</hi> wir<lb/> uns einen Hoffnungsſchimmer bewahren wollen, und in erſter<lb/> Linie unſer fleckenloſes Gewiſſen als die Eltern des Betreffenden,<lb/> ſo iſt es Zeit für uns, mit Entſchiedenheit und mit allem Ernſte<lb/> an's Werk zu gehen. — Laß uns nicht länger ſtreiten, Fanny! Ich<lb/> fühle wie ſchwer es dir wird. Ich weiß, daß du ihn vergötterſt,<lb/></p> </sp> </div> </div> </body> </text> </TEI> [63/0079]
wiſſen. Du magſt theoretiſch vollkommen im Rechte ſein. Aber
ich kann mir mein einziges Kind nicht gewaltſam in den Tod
jagen laſſen!
Herr Gabor. Das hängt nicht von uns ab, Fanny. —
Das iſt ein Riſiko, das wir mit unſerem Glück auf uns genommen.
Wer zu ſchwach für den Marſch iſt, bleibt am Wege. Und es
iſt ſchließlich das Schlimmſte nicht, wenn das Unausbleibliche
zeitig kommt. Möge uns der Himmel davor behüten! Unſere
Pflicht iſt es, den Wankenden zu feſtigen, ſo lange die Vernunft
Mittel weiß. — Daß man ihn aus der Schule gejagt, iſt nicht
ſeine Schuld. Wenn man ihn nicht aus der Schule gejagt hätte,
es wäre auch ſeine Schuld nicht! — Du biſt zu leichtherzig. Du
erblickſt vorwitzige Tändelei, wo es ſich um Grundſchäden des
Charakters handelt. Ihr Frauen ſeid nicht berufen, über ſolche
Dinge zu urtheilen. Wer das ſchreiben kann, was Melchior
ſchreibt, der muß im innerſten Kern ſeines Weſens angefault
ſein. Das Mark iſt ergriffen. Eine halbwegs geſunde Natur
läßt ſich zu ſo etwas nicht herbei. Wir ſind alle keine Heiligen;
jeder von uns irrt vom ſchnurgeraden Pfad ab. Seine Schrift
hingegen vertritt das Prinzip. Seine Schrift entſpricht keinem
zufälligen gelegentlichen Fehltritt; ſie dokumentirt mit ſchauder-
erregender Deutlichkeit den aufrichtig gehegten Vorſatz, jene
natürliche Veranlagung, jenen Hang zum Unmoraliſchen,
weil es das Unmoraliſche iſt. Seine Schrift manifeſtirt jene
exceptionelle geiſtige Corruption, die wir Juriſten mit dem Ausdruck
„moraliſcher Irrſinn“ bezeichnen. — Ob ſich gegen ſeinen Zu-
ſtand etwas ausrichten läßt, vermag ich nicht zu ſagen. Wenn wir
uns einen Hoffnungsſchimmer bewahren wollen, und in erſter
Linie unſer fleckenloſes Gewiſſen als die Eltern des Betreffenden,
ſo iſt es Zeit für uns, mit Entſchiedenheit und mit allem Ernſte
an's Werk zu gehen. — Laß uns nicht länger ſtreiten, Fanny! Ich
fühle wie ſchwer es dir wird. Ich weiß, daß du ihn vergötterſt,
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