Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969.pwe_033.001 II. TEXTKRITIK UND EDITIONSTECHNIK pwe_033.002Man kann sich streiten, ob Philologie, im engen Sinn von Bewahrung, pwe_033.003 1 pwe_033.036
Ernst Zinn, DuV 37 (1936), 137 ff., 40 (1939) 119 ff. pwe_033.001 II. TEXTKRITIK UND EDITIONSTECHNIK pwe_033.002Man kann sich streiten, ob Philologie, im engen Sinn von Bewahrung, pwe_033.003 1 pwe_033.036
Ernst Zinn, DuV 37 (1936), 137 ff., 40 (1939) 119 ff. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0039" n="E33"/> </div> <div n="1"> <lb n="pwe_033.001"/> <head> <hi rendition="#c">II. TEXTKRITIK UND EDITIONSTECHNIK</hi> </head> <lb n="pwe_033.002"/> <p>Man kann sich streiten, ob <hi rendition="#g">Philologie,</hi> im engen Sinn von Bewahrung, <lb n="pwe_033.003"/> Restauration und editorischer Darstellung dichterischer Texte, eine – mehr <lb n="pwe_033.004"/> technische – Hilfswissenschaft zur Literaturwissenschaft im weiteren Sinne <lb n="pwe_033.005"/> sei, oder ob diese selbst ihren Ausgangspunkt und ihr Ziel in der Arbeit <lb n="pwe_033.006"/> am Text finde. Für die erste Meinung spricht, daß Textkritik und Editionstechnik <lb n="pwe_033.007"/> nicht nur der Literaturwissenschaft, sondern jeder mit überlieferten <lb n="pwe_033.008"/> schriftlichen Dokumenten arbeitenden Wissenschaft – Historie, <lb n="pwe_033.009"/> Theologie, Jurisprudenz usw. – den Weg bereitet, und zweitens, daß, <lb n="pwe_033.010"/> wenn irgendwo, so hier gewisse Aufgaben mehr oder weniger gelöst werden <lb n="pwe_033.011"/> können, worüber dann die Forschung zur Tagesordnung übergeht: <lb n="pwe_033.012"/> große wissenschaftliche Gesamtausgaben können und sollen nicht alle 30 <lb n="pwe_033.013"/> Jahre neu gemacht werden. Anderseits ist Arbeit an dichterischen Texten <lb n="pwe_033.014"/> nur möglich aus dem Gesamthorizont der Literaturwissenschaft in allen <lb n="pwe_033.015"/> ihren Disziplinen heraus und wird sie durch den ästhetischen Charakter <lb n="pwe_033.016"/> ihres Gegenstandes, der nicht nur Dokument, sondern Kunstwerk ist, komplizierter <lb n="pwe_033.017"/> und zentraler. Hier zeigt sich am konkretesten die Kreisstruktur <lb n="pwe_033.018"/> der literaturwissenschaftlichen Erkenntnis: das Gesamtwissen beruht <lb n="pwe_033.019"/> auf den einzelnen Texten und Textstellen, diese aber werden nur aus dem <lb n="pwe_033.020"/> Gesamten deutlich. Gegenüber schöngeistiger Verachtung textkritischer <lb n="pwe_033.021"/> Kärrnerarbeit ist neuerdings eine deutliche Aufwertung einer exakten, umsichtigen <lb n="pwe_033.022"/> Philologie festzustellen; eine ästhetisch-kunstwissenschaftliche Interpretation <lb n="pwe_033.023"/> bedarf erst recht des sicheren Buchstabens und hat oft feststellen <lb n="pwe_033.024"/> müssen, wie fragwürdig manchmal die Unterlagen sind. Selbst die wissenschaftlichen <lb n="pwe_033.025"/> Leistungen des „philologischen“ 19. Jahrhunderts werden im <lb n="pwe_033.026"/> Licht einer erweiterten Literaturwissenschaft gelegentlich bedenklich – <lb n="pwe_033.027"/> z. B. einzelne Bände der Sophienausgabe von Goethes Werken –, ganz <lb n="pwe_033.028"/> zu schweigen von älteren, völlig unzulänglichen Ausgaben etwa im Fall <lb n="pwe_033.029"/> Hölderlins, Brentanos, Gotthelfs usw. Daß auch neuere und neueste Dichter <lb n="pwe_033.030"/> selbst in guten und angesehenen Händen sehr rasch von textlicher Verderbnis <lb n="pwe_033.031"/> befallen werden, dafür bieten ein gutes Beispiel die Werke Rilkes: <lb n="pwe_033.032"/> <hi rendition="#k">Ernst Zinn,</hi> ein Altphilologe, hat an den Ausgaben von Rilkes Werken <lb n="pwe_033.033"/> die erstaunlichsten Mängel feststellen können<note xml:id="PWE_033_1" place="foot" n="1"><lb n="pwe_033.036"/> Ernst Zinn, DuV 37 (1936), 137 ff., 40 (1939) 119 ff.</note>. Aber auch bei mehrfach <lb n="pwe_033.034"/> edierten, ehrwürdigen Texten der älteren Literatur kann es Überraschungen <lb n="pwe_033.035"/> geben; so, als <hi rendition="#k">Friedrich Ranke</hi> im altbekannten Codex neue </p> </div> </body> </text> </TEI> [E33/0039]
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II. TEXTKRITIK UND EDITIONSTECHNIK pwe_033.002
Man kann sich streiten, ob Philologie, im engen Sinn von Bewahrung, pwe_033.003
Restauration und editorischer Darstellung dichterischer Texte, eine – mehr pwe_033.004
technische – Hilfswissenschaft zur Literaturwissenschaft im weiteren Sinne pwe_033.005
sei, oder ob diese selbst ihren Ausgangspunkt und ihr Ziel in der Arbeit pwe_033.006
am Text finde. Für die erste Meinung spricht, daß Textkritik und Editionstechnik pwe_033.007
nicht nur der Literaturwissenschaft, sondern jeder mit überlieferten pwe_033.008
schriftlichen Dokumenten arbeitenden Wissenschaft – Historie, pwe_033.009
Theologie, Jurisprudenz usw. – den Weg bereitet, und zweitens, daß, pwe_033.010
wenn irgendwo, so hier gewisse Aufgaben mehr oder weniger gelöst werden pwe_033.011
können, worüber dann die Forschung zur Tagesordnung übergeht: pwe_033.012
große wissenschaftliche Gesamtausgaben können und sollen nicht alle 30 pwe_033.013
Jahre neu gemacht werden. Anderseits ist Arbeit an dichterischen Texten pwe_033.014
nur möglich aus dem Gesamthorizont der Literaturwissenschaft in allen pwe_033.015
ihren Disziplinen heraus und wird sie durch den ästhetischen Charakter pwe_033.016
ihres Gegenstandes, der nicht nur Dokument, sondern Kunstwerk ist, komplizierter pwe_033.017
und zentraler. Hier zeigt sich am konkretesten die Kreisstruktur pwe_033.018
der literaturwissenschaftlichen Erkenntnis: das Gesamtwissen beruht pwe_033.019
auf den einzelnen Texten und Textstellen, diese aber werden nur aus dem pwe_033.020
Gesamten deutlich. Gegenüber schöngeistiger Verachtung textkritischer pwe_033.021
Kärrnerarbeit ist neuerdings eine deutliche Aufwertung einer exakten, umsichtigen pwe_033.022
Philologie festzustellen; eine ästhetisch-kunstwissenschaftliche Interpretation pwe_033.023
bedarf erst recht des sicheren Buchstabens und hat oft feststellen pwe_033.024
müssen, wie fragwürdig manchmal die Unterlagen sind. Selbst die wissenschaftlichen pwe_033.025
Leistungen des „philologischen“ 19. Jahrhunderts werden im pwe_033.026
Licht einer erweiterten Literaturwissenschaft gelegentlich bedenklich – pwe_033.027
z. B. einzelne Bände der Sophienausgabe von Goethes Werken –, ganz pwe_033.028
zu schweigen von älteren, völlig unzulänglichen Ausgaben etwa im Fall pwe_033.029
Hölderlins, Brentanos, Gotthelfs usw. Daß auch neuere und neueste Dichter pwe_033.030
selbst in guten und angesehenen Händen sehr rasch von textlicher Verderbnis pwe_033.031
befallen werden, dafür bieten ein gutes Beispiel die Werke Rilkes: pwe_033.032
Ernst Zinn, ein Altphilologe, hat an den Ausgaben von Rilkes Werken pwe_033.033
die erstaunlichsten Mängel feststellen können 1. Aber auch bei mehrfach pwe_033.034
edierten, ehrwürdigen Texten der älteren Literatur kann es Überraschungen pwe_033.035
geben; so, als Friedrich Ranke im altbekannten Codex neue
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Ernst Zinn, DuV 37 (1936), 137 ff., 40 (1939) 119 ff.
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