theilung in einer Keimzelle sich in hinreichender Menge an- häufen können, um den Charakter hervorzurufen; darüber könnte nur die Erfahrung entscheiden. Bei vielen individuellen kleinen Abzeichen verhält es sich so, und derartige uralte Erbstücke, wie die überzähligen Brustwarzen, verhalten sich im Allgemeinen ganz so, wie individuelle Merkmale; sie sind gewissermassen zu solchen herabgesunken, sind längst nicht mehr im Keimplasma jeden Individuums enthalten, sondern ihre Determinanten fehlen vielmehr bei den meisten vollständig, und finden sich nur bei einzelnen noch in einer gewissen Anzahl von Iden. Gerade wie individuelle Charaktere können ihre Determinanten durch mehrere Generationen hindurch vererbt werden, ohne zur Ent- faltung zu gelangen, um dann plötzlich bei günstiger Combi- nation zweier sich befruchtender Keimzellen manifest zu werden. Der Unterschied zwischen diesen Urahnen-Charakteren und den gewöhnlichen individuellen Merkmalen ist nur der, dass die letzteren in zahlreicheren Iden als Determinanten enthalten sind, wie wir daraus schliessen müssen, dass sie weit häufiger und regelmässiger zur Entfaltung gelangen.
Während sich bei den überzähligen Brustwarzen des Men- schen der Vorfahr nicht genau bezeichnen lässt, von welchem sie abzuleiten sind, also auch nicht die zeitliche Entfernung, von welcher her sie vererbt wurden, ist dies in dem Falle der überzähligen Zehen des Pferdes wenigstens ungefähr ganz wohl möglich. Denn wir kennen die phyletische Entwickelungs- geschichte des Pferdes, dank den schönen Untersuchungen von A. Kowalewsky und später von Marsh recht genau und wissen, dass zur mittleren Tertiärzeit Pferde der Gattungen Mesohippus, Miohippus und Protohippus oder Hipparion lebten, welche neben der starken mittleren Zehe noch zwei schwächere und kürzere Seitenzehen besassen, und wenn heute zuweilen Pferde geboren werden, welche an zwei oder auch an allen vier Füssen eine oder zwei solcher kürzerer Nebenzehen besitzen, so
theilung in einer Keimzelle sich in hinreichender Menge an- häufen können, um den Charakter hervorzurufen; darüber könnte nur die Erfahrung entscheiden. Bei vielen individuellen kleinen Abzeichen verhält es sich so, und derartige uralte Erbstücke, wie die überzähligen Brustwarzen, verhalten sich im Allgemeinen ganz so, wie individuelle Merkmale; sie sind gewissermassen zu solchen herabgesunken, sind längst nicht mehr im Keimplasma jeden Individuums enthalten, sondern ihre Determinanten fehlen vielmehr bei den meisten vollständig, und finden sich nur bei einzelnen noch in einer gewissen Anzahl von Iden. Gerade wie individuelle Charaktere können ihre Determinanten durch mehrere Generationen hindurch vererbt werden, ohne zur Ent- faltung zu gelangen, um dann plötzlich bei günstiger Combi- nation zweier sich befruchtender Keimzellen manifest zu werden. Der Unterschied zwischen diesen Urahnen-Charakteren und den gewöhnlichen individuellen Merkmalen ist nur der, dass die letzteren in zahlreicheren Iden als Determinanten enthalten sind, wie wir daraus schliessen müssen, dass sie weit häufiger und regelmässiger zur Entfaltung gelangen.
Während sich bei den überzähligen Brustwarzen des Men- schen der Vorfahr nicht genau bezeichnen lässt, von welchem sie abzuleiten sind, also auch nicht die zeitliche Entfernung, von welcher her sie vererbt wurden, ist dies in dem Falle der überzähligen Zehen des Pferdes wenigstens ungefähr ganz wohl möglich. Denn wir kennen die phyletische Entwickelungs- geschichte des Pferdes, dank den schönen Untersuchungen von A. Kowalewsky und später von Marsh recht genau und wissen, dass zur mittleren Tertiärzeit Pferde der Gattungen Mesohippus, Miohippus und Protohippus oder Hipparion lebten, welche neben der starken mittleren Zehe noch zwei schwächere und kürzere Seitenzehen besassen, und wenn heute zuweilen Pferde geboren werden, welche an zwei oder auch an allen vier Füssen eine oder zwei solcher kürzerer Nebenzehen besitzen, so
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theilung in einer Keimzelle sich in hinreichender Menge an-
häufen können, um den Charakter hervorzurufen; darüber könnte
nur die Erfahrung entscheiden. Bei vielen individuellen kleinen
Abzeichen verhält es sich so, und derartige uralte Erbstücke,
wie die überzähligen Brustwarzen, verhalten sich im Allgemeinen
ganz so, wie individuelle Merkmale; sie sind gewissermassen zu
solchen herabgesunken, sind längst nicht mehr im Keimplasma
jeden Individuums enthalten, sondern ihre Determinanten fehlen
vielmehr bei den meisten vollständig, und finden sich nur bei
einzelnen noch in einer gewissen Anzahl von Iden. Gerade
wie individuelle Charaktere können ihre Determinanten durch
mehrere Generationen hindurch vererbt werden, ohne zur Ent-
faltung zu gelangen, um dann plötzlich bei günstiger Combi-
nation zweier sich befruchtender Keimzellen manifest zu werden.
Der Unterschied zwischen diesen Urahnen-Charakteren und den
gewöhnlichen individuellen Merkmalen ist nur der, dass die
letzteren in zahlreicheren Iden als Determinanten enthalten sind,
wie wir daraus schliessen müssen, dass sie weit häufiger und
regelmässiger zur Entfaltung gelangen.
Während sich bei den überzähligen Brustwarzen des Men-
schen der Vorfahr nicht genau bezeichnen lässt, von welchem
sie abzuleiten sind, also auch nicht die zeitliche Entfernung,
von welcher her sie vererbt wurden, ist dies in dem Falle der
überzähligen Zehen des Pferdes wenigstens ungefähr ganz
wohl möglich. Denn wir kennen die phyletische Entwickelungs-
geschichte des Pferdes, dank den schönen Untersuchungen von
A. Kowalewsky und später von Marsh recht genau und
wissen, dass zur mittleren Tertiärzeit Pferde der Gattungen
Mesohippus, Miohippus und Protohippus oder Hipparion lebten,
welche neben der starken mittleren Zehe noch zwei schwächere
und kürzere Seitenzehen besassen, und wenn heute zuweilen
Pferde geboren werden, welche an zwei oder auch an allen vier
Füssen eine oder zwei solcher kürzerer Nebenzehen besitzen, so
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Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/462>, abgerufen am 22.11.2024.
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