soweit es sich nur einfach um die latente Übertragung der beiderlei sekundären Charaktere vom Keimplasma der einen auf das der andern Generation handelt, sie bedarf aber noch eines wesent- lichen Zusatzes. Wir kennen ein Reihe von Thatsachen, welche darauf hindeuten, dass nicht nur das Keimplasma, aus welchem das Bion hervorgeht, die latente Anlage von beiderlei Sexual- charakteren enthält, sondern auch der fertige Körper des Bion selbst. Dass das Keimplasma beide enthalten muss, geht schon daraus hervor, dass sie beide auf die Nachkommen über- tragen werden können, und es ist im sechsten Capitel gezeigt worden, wie man sich diese Vererbung durch eine Continuität der Keimplasma-Materie von einer Generation von Keimzellen auf die andere erklären kann. Hier aber handelt es sich darum, dass auch im fertigen Individuum die beiderlei Sexualcharaktere der Anlage nach enthalten sein können: dass ein männliches Bion die weiblichen Sexualcharaktere nicht nur in seinen Keim- zellen, sondern auch in seinem Körper enthalten kann, und um- gekehrt ein weibliches Bion die männlichen Sexualcharaktere. Die Thatsachen, welche ich meine, sind bekannt, und von Darwin sorgfältig gesammelt und ausführlich besprochen worden. Sie bestehen kurz gesagt darin, dass bei ausgebildeten Individuen des einen Geschlechts unter besondern Umständen die sekundären Sexualcharaktere des andern Geschlechtes zur nachträglichen Ausbildung gelangen können. Dahin gehören vor Allem die Folgen der Castration bei beiden Geschlechtern. Die Ent- fernung der Geschlechtsdrüsen bei jungen Säugethieren und Vögeln verhindert die Entfaltung der sekundären männlichen Geschlechtscharaktere; castrirte Hähne z. B. behalten das Aus- sehen von Hühnern, sie bekommen weder den schönen Schwanz, noch den grossen Kamm und Sporn des Hahnes, noch krähen sie. Umgekehrt nehmen weibliche Hühner, wenn sie steril werden im Alter, oder wenn ihre Ovarien degeneriren, die äusseren
soweit es sich nur einfach um die latente Übertragung der beiderlei sekundären Charaktere vom Keimplasma der einen auf das der andern Generation handelt, sie bedarf aber noch eines wesent- lichen Zusatzes. Wir kennen ein Reihe von Thatsachen, welche darauf hindeuten, dass nicht nur das Keimplasma, aus welchem das Bion hervorgeht, die latente Anlage von beiderlei Sexual- charakteren enthält, sondern auch der fertige Körper des Bion selbst. Dass das Keimplasma beide enthalten muss, geht schon daraus hervor, dass sie beide auf die Nachkommen über- tragen werden können, und es ist im sechsten Capitel gezeigt worden, wie man sich diese Vererbung durch eine Continuität der Keimplasma-Materie von einer Generation von Keimzellen auf die andere erklären kann. Hier aber handelt es sich darum, dass auch im fertigen Individuum die beiderlei Sexualcharaktere der Anlage nach enthalten sein können: dass ein männliches Bion die weiblichen Sexualcharaktere nicht nur in seinen Keim- zellen, sondern auch in seinem Körper enthalten kann, und um- gekehrt ein weibliches Bion die männlichen Sexualcharaktere. Die Thatsachen, welche ich meine, sind bekannt, und von Darwin sorgfältig gesammelt und ausführlich besprochen worden. Sie bestehen kurz gesagt darin, dass bei ausgebildeten Individuen des einen Geschlechts unter besondern Umständen die sekundären Sexualcharaktere des andern Geschlechtes zur nachträglichen Ausbildung gelangen können. Dahin gehören vor Allem die Folgen der Castration bei beiden Geschlechtern. Die Ent- fernung der Geschlechtsdrüsen bei jungen Säugethieren und Vögeln verhindert die Entfaltung der sekundären männlichen Geschlechtscharaktere; castrirte Hähne z. B. behalten das Aus- sehen von Hühnern, sie bekommen weder den schönen Schwanz, noch den grossen Kamm und Sporn des Hahnes, noch krähen sie. Umgekehrt nehmen weibliche Hühner, wenn sie steril werden im Alter, oder wenn ihre Ovarien degeneriren, die äusseren
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0493"n="469"/>
soweit es sich nur einfach um die latente Übertragung der beiderlei<lb/>
sekundären Charaktere vom Keimplasma der einen auf das der<lb/>
andern Generation handelt, sie bedarf aber noch eines wesent-<lb/>
lichen Zusatzes. Wir kennen ein Reihe von Thatsachen, welche<lb/>
darauf hindeuten, dass nicht nur das Keimplasma, aus welchem<lb/>
das Bion hervorgeht, die latente Anlage von beiderlei Sexual-<lb/>
charakteren enthält, <hirendition="#g">sondern auch der fertige Körper des<lb/>
Bion selbst</hi>. Dass das Keimplasma beide enthalten muss, geht<lb/>
schon daraus hervor, dass sie beide auf die Nachkommen über-<lb/>
tragen werden können, und es ist im sechsten Capitel gezeigt<lb/>
worden, wie man sich diese Vererbung durch eine Continuität<lb/>
der Keimplasma-Materie von einer Generation von Keimzellen<lb/>
auf die andere erklären kann. Hier aber handelt es sich darum,<lb/>
dass auch im fertigen Individuum die beiderlei Sexualcharaktere<lb/>
der Anlage nach enthalten sein können: dass ein männliches<lb/>
Bion die weiblichen Sexualcharaktere nicht nur in seinen Keim-<lb/>
zellen, sondern auch in seinem Körper enthalten kann, und um-<lb/>
gekehrt ein weibliches Bion die männlichen Sexualcharaktere.<lb/>
Die Thatsachen, welche ich meine, sind bekannt, und von<lb/><hirendition="#g">Darwin</hi> sorgfältig gesammelt und ausführlich besprochen worden.<lb/>
Sie bestehen kurz gesagt darin, dass bei ausgebildeten Individuen<lb/>
des einen Geschlechts unter besondern Umständen die sekundären<lb/>
Sexualcharaktere des andern Geschlechtes zur nachträglichen<lb/>
Ausbildung gelangen können. Dahin gehören vor Allem <hirendition="#g">die<lb/>
Folgen der Castration</hi> bei beiden Geschlechtern. Die Ent-<lb/>
fernung der Geschlechtsdrüsen bei jungen Säugethieren und<lb/>
Vögeln verhindert die Entfaltung der sekundären männlichen<lb/>
Geschlechtscharaktere; castrirte Hähne z. B. behalten das Aus-<lb/>
sehen von Hühnern, sie bekommen weder den schönen Schwanz,<lb/>
noch den grossen Kamm und Sporn des Hahnes, noch krähen<lb/>
sie. Umgekehrt nehmen weibliche Hühner, wenn sie steril werden<lb/>
im Alter, oder wenn ihre Ovarien degeneriren, die äusseren<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[469/0493]
soweit es sich nur einfach um die latente Übertragung der beiderlei
sekundären Charaktere vom Keimplasma der einen auf das der
andern Generation handelt, sie bedarf aber noch eines wesent-
lichen Zusatzes. Wir kennen ein Reihe von Thatsachen, welche
darauf hindeuten, dass nicht nur das Keimplasma, aus welchem
das Bion hervorgeht, die latente Anlage von beiderlei Sexual-
charakteren enthält, sondern auch der fertige Körper des
Bion selbst. Dass das Keimplasma beide enthalten muss, geht
schon daraus hervor, dass sie beide auf die Nachkommen über-
tragen werden können, und es ist im sechsten Capitel gezeigt
worden, wie man sich diese Vererbung durch eine Continuität
der Keimplasma-Materie von einer Generation von Keimzellen
auf die andere erklären kann. Hier aber handelt es sich darum,
dass auch im fertigen Individuum die beiderlei Sexualcharaktere
der Anlage nach enthalten sein können: dass ein männliches
Bion die weiblichen Sexualcharaktere nicht nur in seinen Keim-
zellen, sondern auch in seinem Körper enthalten kann, und um-
gekehrt ein weibliches Bion die männlichen Sexualcharaktere.
Die Thatsachen, welche ich meine, sind bekannt, und von
Darwin sorgfältig gesammelt und ausführlich besprochen worden.
Sie bestehen kurz gesagt darin, dass bei ausgebildeten Individuen
des einen Geschlechts unter besondern Umständen die sekundären
Sexualcharaktere des andern Geschlechtes zur nachträglichen
Ausbildung gelangen können. Dahin gehören vor Allem die
Folgen der Castration bei beiden Geschlechtern. Die Ent-
fernung der Geschlechtsdrüsen bei jungen Säugethieren und
Vögeln verhindert die Entfaltung der sekundären männlichen
Geschlechtscharaktere; castrirte Hähne z. B. behalten das Aus-
sehen von Hühnern, sie bekommen weder den schönen Schwanz,
noch den grossen Kamm und Sporn des Hahnes, noch krähen
sie. Umgekehrt nehmen weibliche Hühner, wenn sie steril werden
im Alter, oder wenn ihre Ovarien degeneriren, die äusseren
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Weismann, August: Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung. Jena, 1892, S. 469. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_keimplasma_1892/493>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.