Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Ich will mich aber nicht damit aufhalten, noch andere
der scheinbaren Beweise für eine Vererbung erworbener
Eigenschaften zu widerlegen; hätte ich auch alle wiederlegt,
die bisher vorgebracht wurden, es tauchten doch immer
wieder neue auf, und auf diesem Wege kämen wir nie zu
einem Abschluss. Auch habe ich ja von jeher hervor-
gehoben, dass die Annahme eines Erklärungsprincips auch
dadurch sich rechtfertigt, dass ohne sie gewisse Erschei-
nungen unerklärlich bleiben. Ich habe es deshalb von vorn-
herein als meine Aufgabe betrachtet, zu zeigen, dass die
Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften zur
Erklärung der bekannten Erscheinungen nicht nothwendig
ist, und habe damit begonnen, eine ganze Reihe von Er-
scheinungen, die man bisher nur mit Hülfe dieser Annahme
zu erklären gewohnt war, ohne sie verständlich zu machen,
so das Verkümmern überflüssig gewordener Theile, die Ent-
wickelung der Instincte, das Dasein künstlerischer Talente
beim Menschen. Es war mir auch keinen Augenblick
zweifelhaft, dass damit noch nicht Alles geleistet sei, dass
es noch andere Vorgänge gebe, welche nur durch diese An-
nahme Erklärung finden zu können scheinen, und unter
diesen stand obenan das, was Herbert Spencer 1) jetzt
wieder in einem längeren Aufsatz in den Vordergrund ge-
stellt und als zwingenden Grund für die Annahme einer
Vererbung erworbener Eigenschaften geltend gemacht hat:
die harmonische Abänderung der verschie-
denen zu einer physiologischen Leistung zu-
sammenwirkenden Theile (Coadaptation)
.

1) Herbert Spencer, "The inadequacy of natural Se-
lection", Contemporary Review for February and March 1893.

Ich will mich aber nicht damit aufhalten, noch andere
der scheinbaren Beweise für eine Vererbung erworbener
Eigenschaften zu widerlegen; hätte ich auch alle wiederlegt,
die bisher vorgebracht wurden, es tauchten doch immer
wieder neue auf, und auf diesem Wege kämen wir nie zu
einem Abschluss. Auch habe ich ja von jeher hervor-
gehoben, dass die Annahme eines Erklärungsprincips auch
dadurch sich rechtfertigt, dass ohne sie gewisse Erschei-
nungen unerklärlich bleiben. Ich habe es deshalb von vorn-
herein als meine Aufgabe betrachtet, zu zeigen, dass die
Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften zur
Erklärung der bekannten Erscheinungen nicht nothwendig
ist, und habe damit begonnen, eine ganze Reihe von Er-
scheinungen, die man bisher nur mit Hülfe dieser Annahme
zu erklären gewohnt war, ohne sie verständlich zu machen,
so das Verkümmern überflüssig gewordener Theile, die Ent-
wickelung der Instincte, das Dasein künstlerischer Talente
beim Menschen. Es war mir auch keinen Augenblick
zweifelhaft, dass damit noch nicht Alles geleistet sei, dass
es noch andere Vorgänge gebe, welche nur durch diese An-
nahme Erklärung finden zu können scheinen, und unter
diesen stand obenan das, was Herbert Spencer 1) jetzt
wieder in einem längeren Aufsatz in den Vordergrund ge-
stellt und als zwingenden Grund für die Annahme einer
Vererbung erworbener Eigenschaften geltend gemacht hat:
die harmonische Abänderung der verschie-
denen zu einer physiologischen Leistung zu-
sammenwirkenden Theile (Coadaptation)
.

1) Herbert Spencer, „The inadequacy of natural Se-
lection“, Contemporary Review for February and March 1893.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0022" n="10"/>
        <p>Ich will mich aber nicht damit aufhalten, noch andere<lb/>
der scheinbaren Beweise für eine Vererbung erworbener<lb/>
Eigenschaften zu widerlegen; hätte ich auch alle wiederlegt,<lb/>
die bisher vorgebracht wurden, es tauchten doch immer<lb/>
wieder neue auf, und auf diesem Wege kämen wir nie zu<lb/>
einem Abschluss. Auch habe ich ja von jeher hervor-<lb/>
gehoben, dass die Annahme eines Erklärungsprincips auch<lb/>
dadurch sich rechtfertigt, dass ohne sie gewisse Erschei-<lb/>
nungen unerklärlich bleiben. Ich habe es deshalb von vorn-<lb/>
herein als meine Aufgabe betrachtet, zu zeigen, dass die<lb/>
Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften zur<lb/>
Erklärung der bekannten Erscheinungen nicht nothwendig<lb/>
ist, und habe damit begonnen, eine ganze Reihe von Er-<lb/>
scheinungen, die man bisher nur mit Hülfe dieser Annahme<lb/>
zu erklären gewohnt war, ohne sie verständlich zu machen,<lb/>
so das Verkümmern überflüssig gewordener Theile, die Ent-<lb/>
wickelung der Instincte, das Dasein künstlerischer Talente<lb/>
beim Menschen. Es war mir auch keinen Augenblick<lb/>
zweifelhaft, dass damit noch nicht Alles geleistet sei, dass<lb/>
es noch andere Vorgänge gebe, welche nur durch diese An-<lb/>
nahme Erklärung finden zu können scheinen, und unter<lb/>
diesen stand obenan das, was <hi rendition="#g">Herbert Spencer</hi> <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#g">Herbert Spencer</hi>, &#x201E;The inadequacy of natural Se-<lb/>
lection&#x201C;, Contemporary Review for February and March 1893.</note> jetzt<lb/>
wieder in einem längeren Aufsatz in den Vordergrund ge-<lb/>
stellt und als zwingenden Grund für die Annahme einer<lb/>
Vererbung erworbener Eigenschaften geltend gemacht hat:<lb/><hi rendition="#g">die harmonische Abänderung der verschie-<lb/>
denen zu einer physiologischen Leistung zu-<lb/>
sammenwirkenden Theile (Coadaptation)</hi>.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0022] Ich will mich aber nicht damit aufhalten, noch andere der scheinbaren Beweise für eine Vererbung erworbener Eigenschaften zu widerlegen; hätte ich auch alle wiederlegt, die bisher vorgebracht wurden, es tauchten doch immer wieder neue auf, und auf diesem Wege kämen wir nie zu einem Abschluss. Auch habe ich ja von jeher hervor- gehoben, dass die Annahme eines Erklärungsprincips auch dadurch sich rechtfertigt, dass ohne sie gewisse Erschei- nungen unerklärlich bleiben. Ich habe es deshalb von vorn- herein als meine Aufgabe betrachtet, zu zeigen, dass die Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften zur Erklärung der bekannten Erscheinungen nicht nothwendig ist, und habe damit begonnen, eine ganze Reihe von Er- scheinungen, die man bisher nur mit Hülfe dieser Annahme zu erklären gewohnt war, ohne sie verständlich zu machen, so das Verkümmern überflüssig gewordener Theile, die Ent- wickelung der Instincte, das Dasein künstlerischer Talente beim Menschen. Es war mir auch keinen Augenblick zweifelhaft, dass damit noch nicht Alles geleistet sei, dass es noch andere Vorgänge gebe, welche nur durch diese An- nahme Erklärung finden zu können scheinen, und unter diesen stand obenan das, was Herbert Spencer 1) jetzt wieder in einem längeren Aufsatz in den Vordergrund ge- stellt und als zwingenden Grund für die Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften geltend gemacht hat: die harmonische Abänderung der verschie- denen zu einer physiologischen Leistung zu- sammenwirkenden Theile (Coadaptation). 1) Herbert Spencer, „The inadequacy of natural Se- lection“, Contemporary Review for February and March 1893.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893/22
Zitationshilfe: Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893/22>, abgerufen am 21.11.2024.