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Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893.

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sprochene 1) und sehr genau in vielen Ländern beobachtete
Formica sanguinea. Bei dieser gehen die Arbeiterinnen oft
auf Raub aus, brechen in die Kolonien anderer Arten (z. B.
Formica fusca) ein und schleppen deren Puppen in ihr eignes
Nest; aber dieser Instinct ist bei ihnen noch nicht festes
Besitzthum der Art geworden, denn man findet auch Kolo-
nien ohne Sklaven. Dementsprechend zeigt auch Formica
sanguinea noch keine Abänderungen in Bau und Trieben,
wie sie bei Polyergus rufescens eingetreten sind, bei welcher
alle Kolonien Sklaven enthalten, somit der Sklavenhaltungs-
trieb ein fester Artcharakter geworden ist.

Diese beiden Arten, Formica sanguinea und Polyergus
rufescens, repräsentiren uns also zwei Stadien in der Ent-
wickelung des Sklavenhaltungstriebs. Zwischen diesen beiden
Stadien nun muss der Ursprung der Veränderungen liegen,
welche bei Polyergus durch das Sklavenhalten entstanden
sind, ich meine: die Umwandlung der Kiefer aus
Arbeitswerkzeugen in tödtliche Waffen und
geschickte Transportwerkzeuge, und die Ver-
kümmerung der gewöhnlichen Instincte der
Arbeiter. Alle diese Abänderungen müssen
also unwiderleglich ohne jede Mitwirkung von
Vererbung functioneller Veränderungen er-
folgt sein
. Die Kiefer von Polyergus rufescens haben
den sog. "Kaurand" verloren. Ameisen kauen zwar nicht
im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern sie lecken, aber

1) Vergleiche: Forel a. a. O. u. Wasmann, "Die zu-
sammengesetzten Nester u. gemischten Kolonien der Ameisen,
ein Beitrag zur Biologie, Physiologie und Entwickelungs-
geschichte der Ameisengesellschaften", Münster i. W. 1891.
Weismann, Allmacht der Naturzüchtung. 4

sprochene 1) und sehr genau in vielen Ländern beobachtete
Formica sanguinea. Bei dieser gehen die Arbeiterinnen oft
auf Raub aus, brechen in die Kolonien anderer Arten (z. B.
Formica fusca) ein und schleppen deren Puppen in ihr eignes
Nest; aber dieser Instinct ist bei ihnen noch nicht festes
Besitzthum der Art geworden, denn man findet auch Kolo-
nien ohne Sklaven. Dementsprechend zeigt auch Formica
sanguinea noch keine Abänderungen in Bau und Trieben,
wie sie bei Polyergus rufescens eingetreten sind, bei welcher
alle Kolonien Sklaven enthalten, somit der Sklavenhaltungs-
trieb ein fester Artcharakter geworden ist.

Diese beiden Arten, Formica sanguinea und Polyergus
rufescens, repräsentiren uns also zwei Stadien in der Ent-
wickelung des Sklavenhaltungstriebs. Zwischen diesen beiden
Stadien nun muss der Ursprung der Veränderungen liegen,
welche bei Polyergus durch das Sklavenhalten entstanden
sind, ich meine: die Umwandlung der Kiefer aus
Arbeitswerkzeugen in tödtliche Waffen und
geschickte Transportwerkzeuge, und die Ver-
kümmerung der gewöhnlichen Instincte der
Arbeiter. Alle diese Abänderungen müssen
also unwiderleglich ohne jede Mitwirkung von
Vererbung functioneller Veränderungen er-
folgt sein
. Die Kiefer von Polyergus rufescens haben
den sog. „Kaurand“ verloren. Ameisen kauen zwar nicht
im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern sie lecken, aber

1) Vergleiche: Forel a. a. O. u. Wasmann, „Die zu-
sammengesetzten Nester u. gemischten Kolonien der Ameisen,
ein Beitrag zur Biologie, Physiologie und Entwickelungs-
geschichte der Ameisengesellschaften“, Münster i. W. 1891.
Weismann, Allmacht der Naturzüchtung. 4
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[49/0061] sprochene 1) und sehr genau in vielen Ländern beobachtete Formica sanguinea. Bei dieser gehen die Arbeiterinnen oft auf Raub aus, brechen in die Kolonien anderer Arten (z. B. Formica fusca) ein und schleppen deren Puppen in ihr eignes Nest; aber dieser Instinct ist bei ihnen noch nicht festes Besitzthum der Art geworden, denn man findet auch Kolo- nien ohne Sklaven. Dementsprechend zeigt auch Formica sanguinea noch keine Abänderungen in Bau und Trieben, wie sie bei Polyergus rufescens eingetreten sind, bei welcher alle Kolonien Sklaven enthalten, somit der Sklavenhaltungs- trieb ein fester Artcharakter geworden ist. Diese beiden Arten, Formica sanguinea und Polyergus rufescens, repräsentiren uns also zwei Stadien in der Ent- wickelung des Sklavenhaltungstriebs. Zwischen diesen beiden Stadien nun muss der Ursprung der Veränderungen liegen, welche bei Polyergus durch das Sklavenhalten entstanden sind, ich meine: die Umwandlung der Kiefer aus Arbeitswerkzeugen in tödtliche Waffen und geschickte Transportwerkzeuge, und die Ver- kümmerung der gewöhnlichen Instincte der Arbeiter. Alle diese Abänderungen müssen also unwiderleglich ohne jede Mitwirkung von Vererbung functioneller Veränderungen er- folgt sein. Die Kiefer von Polyergus rufescens haben den sog. „Kaurand“ verloren. Ameisen kauen zwar nicht im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern sie lecken, aber 1) Vergleiche: Forel a. a. O. u. Wasmann, „Die zu- sammengesetzten Nester u. gemischten Kolonien der Ameisen, ein Beitrag zur Biologie, Physiologie und Entwickelungs- geschichte der Ameisengesellschaften“, Münster i. W. 1891. Weismann, Allmacht der Naturzüchtung. 4

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Zitationshilfe: Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893/61>, abgerufen am 23.11.2024.