Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Doch lassen wir den Streit um Worte und wenden uns
zu wichtigeren Punkten! Mein Gegner hält es für unrichtig,
dass die erste Arbeitstheilung diejenige in somatische und
propagatorische Zellen gewesen sei, und schliesst dies daraus,
dass nach meiner eignen Angabe diese Scheidung heute
noch nicht überall eine absolute ist, und dass in der Onto-
genese der Vertebraten die Geschlechtszellen erst spät auf-
treten, bei Hydroiden sogar erst in späteren Generationen.
Er nennt diese Thatsachen einen Riss (crack) durch meine
Theorie, ja gradezu einen Abgrund (chasm); ja, er hält sie
für so vernichtend für meine Ansicht, dass er mich jenem
Franzosen vergleicht, der die widersprechenden Thatsachen
durch das Wort beseitigt: "tant pis pour les faits."

Ich muss gestehen, dass ich einigermaassen erstaunt
bin über die ausserordentliche Leichtigkeit, mit der Her-
bert Spencer
mit den Ansichten Anderer fertig wird.
Sollte denn der Verfasser der Principien der Biologie nicht
wissen, wie tausendfach in der Entwickelungsgeschichte zeit-
liche und örtliche Verschiebungen vorkommen, ja, dass es
kaum eine Ontogenese gibt, bei welcher solche Verschie-
bungen nicht mitspielen? Wenn er es nicht wusste, so
hätte er nur meinen Aufsatz IV zu lesen brauchen, in
welchem dies grade in Bezug auf die Keimzellen-Genese
ausführlich erörtert wird (Deutsche Ausgabe, p. 247).

Sollen wir die primären Verhältnisse bei den Verte-
braten suchen, derjenigen Thiergruppe, die zuletzt von
allen entstanden ist? Oder bei den Hydroiden, deren Fort-
pflanzungsweise der Generationswechsel ist, ebenfalls eine
durchaus secundäre und spät erworbene Form der Fort-
pflanzung? Besteht nicht die Kunst, den phylogenetischen
Zusammenhang der Arten zu erschliessen, grossentheils

Doch lassen wir den Streit um Worte und wenden uns
zu wichtigeren Punkten! Mein Gegner hält es für unrichtig,
dass die erste Arbeitstheilung diejenige in somatische und
propagatorische Zellen gewesen sei, und schliesst dies daraus,
dass nach meiner eignen Angabe diese Scheidung heute
noch nicht überall eine absolute ist, und dass in der Onto-
genese der Vertebraten die Geschlechtszellen erst spät auf-
treten, bei Hydroiden sogar erst in späteren Generationen.
Er nennt diese Thatsachen einen Riss (crack) durch meine
Theorie, ja gradezu einen Abgrund (chasm); ja, er hält sie
für so vernichtend für meine Ansicht, dass er mich jenem
Franzosen vergleicht, der die widersprechenden Thatsachen
durch das Wort beseitigt: „tant pis pour les faits.“

Ich muss gestehen, dass ich einigermaassen erstaunt
bin über die ausserordentliche Leichtigkeit, mit der Her-
bert Spencer
mit den Ansichten Anderer fertig wird.
Sollte denn der Verfasser der Principien der Biologie nicht
wissen, wie tausendfach in der Entwickelungsgeschichte zeit-
liche und örtliche Verschiebungen vorkommen, ja, dass es
kaum eine Ontogenese gibt, bei welcher solche Verschie-
bungen nicht mitspielen? Wenn er es nicht wusste, so
hätte er nur meinen Aufsatz IV zu lesen brauchen, in
welchem dies grade in Bezug auf die Keimzellen-Genese
ausführlich erörtert wird (Deutsche Ausgabe, p. 247).

Sollen wir die primären Verhältnisse bei den Verte-
braten suchen, derjenigen Thiergruppe, die zuletzt von
allen entstanden ist? Oder bei den Hydroiden, deren Fort-
pflanzungsweise der Generationswechsel ist, ebenfalls eine
durchaus secundäre und spät erworbene Form der Fort-
pflanzung? Besteht nicht die Kunst, den phylogenetischen
Zusammenhang der Arten zu erschliessen, grossentheils

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0080" n="68"/>
        <p>Doch lassen wir den Streit um Worte und wenden uns<lb/>
zu wichtigeren Punkten! Mein Gegner hält es für unrichtig,<lb/>
dass die erste Arbeitstheilung diejenige in somatische und<lb/>
propagatorische Zellen gewesen sei, und schliesst dies daraus,<lb/>
dass nach meiner eignen Angabe diese Scheidung heute<lb/>
noch nicht überall eine absolute ist, und dass in der Onto-<lb/>
genese der Vertebraten die Geschlechtszellen erst spät auf-<lb/>
treten, bei Hydroiden sogar erst in späteren Generationen.<lb/>
Er nennt diese Thatsachen einen Riss (crack) durch meine<lb/>
Theorie, ja gradezu einen Abgrund (chasm); ja, er hält sie<lb/>
für so vernichtend für meine Ansicht, dass er mich jenem<lb/>
Franzosen vergleicht, der die widersprechenden Thatsachen<lb/>
durch das Wort beseitigt: &#x201E;tant pis pour les faits.&#x201C;</p><lb/>
        <p>Ich muss gestehen, dass ich einigermaassen erstaunt<lb/>
bin über die ausserordentliche Leichtigkeit, mit der <hi rendition="#g">Her-<lb/>
bert Spencer</hi> mit den Ansichten Anderer fertig wird.<lb/>
Sollte denn der Verfasser der Principien der Biologie nicht<lb/>
wissen, wie tausendfach in der Entwickelungsgeschichte zeit-<lb/>
liche und örtliche Verschiebungen vorkommen, ja, dass es<lb/>
kaum eine Ontogenese gibt, bei welcher solche Verschie-<lb/>
bungen nicht mitspielen? Wenn er es nicht wusste, so<lb/>
hätte er nur meinen Aufsatz IV zu lesen brauchen, in<lb/>
welchem dies grade in Bezug auf die Keimzellen-Genese<lb/>
ausführlich erörtert wird (Deutsche Ausgabe, p. 247).</p><lb/>
        <p>Sollen wir die primären Verhältnisse bei den Verte-<lb/>
braten suchen, derjenigen Thiergruppe, die <hi rendition="#g">zuletzt</hi> von<lb/>
allen entstanden ist? Oder bei den Hydroiden, deren Fort-<lb/>
pflanzungsweise der Generationswechsel ist, ebenfalls eine<lb/>
durchaus secundäre und spät erworbene Form der Fort-<lb/>
pflanzung? Besteht nicht die Kunst, den phylogenetischen<lb/>
Zusammenhang der Arten zu erschliessen, grossentheils<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0080] Doch lassen wir den Streit um Worte und wenden uns zu wichtigeren Punkten! Mein Gegner hält es für unrichtig, dass die erste Arbeitstheilung diejenige in somatische und propagatorische Zellen gewesen sei, und schliesst dies daraus, dass nach meiner eignen Angabe diese Scheidung heute noch nicht überall eine absolute ist, und dass in der Onto- genese der Vertebraten die Geschlechtszellen erst spät auf- treten, bei Hydroiden sogar erst in späteren Generationen. Er nennt diese Thatsachen einen Riss (crack) durch meine Theorie, ja gradezu einen Abgrund (chasm); ja, er hält sie für so vernichtend für meine Ansicht, dass er mich jenem Franzosen vergleicht, der die widersprechenden Thatsachen durch das Wort beseitigt: „tant pis pour les faits.“ Ich muss gestehen, dass ich einigermaassen erstaunt bin über die ausserordentliche Leichtigkeit, mit der Her- bert Spencer mit den Ansichten Anderer fertig wird. Sollte denn der Verfasser der Principien der Biologie nicht wissen, wie tausendfach in der Entwickelungsgeschichte zeit- liche und örtliche Verschiebungen vorkommen, ja, dass es kaum eine Ontogenese gibt, bei welcher solche Verschie- bungen nicht mitspielen? Wenn er es nicht wusste, so hätte er nur meinen Aufsatz IV zu lesen brauchen, in welchem dies grade in Bezug auf die Keimzellen-Genese ausführlich erörtert wird (Deutsche Ausgabe, p. 247). Sollen wir die primären Verhältnisse bei den Verte- braten suchen, derjenigen Thiergruppe, die zuletzt von allen entstanden ist? Oder bei den Hydroiden, deren Fort- pflanzungsweise der Generationswechsel ist, ebenfalls eine durchaus secundäre und spät erworbene Form der Fort- pflanzung? Besteht nicht die Kunst, den phylogenetischen Zusammenhang der Arten zu erschliessen, grossentheils

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893/80
Zitationshilfe: Weismann, August: Die Allmacht der Naturzüchtung. Eine Erwiderung an Herbert Spencer. Jena, 1893, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weismann_naturzuechtung_1893/80>, abgerufen am 09.11.2024.