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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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4.) Kunschkel, 50 Jahre alt, Goldarbeiter, litt seit 2 Jahren
an Incontinentia urinae et alvi und liess sich deshalb am 27.
Januar 1874 auf eine innere Station des Allerheiligen-Hospitales
aufnehmen. Dort fiel er durch unmotivirte excessive Grobheit
gegen Wärterin und Arzt auf und wurde deshalb am 29. Januar
auf die Irrenabtheilung verlegt. Dort zeigte er ein unwirsches,
unfreundliches Benehmen, grosse Reizbarkeit und Zornmütigkeit
auf kleine Anlässe hin und vollständige Incontinenz des Urins
und Stuhlganges, die manchmal den Schein des Absichtlichen
trug. Von seiner Stellung im Hospitale hatte er höchst unklare
Vorstellungen. Erscheinungen von Paraplegie oder Tabes fehlten.
Das ganze Knochenskelett war hochgradig rhachitisch verkrümmt.

Am 26. März 1874 gegen Abend erhielt er bei einem Streite,
der sich im Männer-Gesellschaftssaal entwickelte und bei welchem
nicht rechtzeitig intervenirt wurde, einen Schlag ans rechte Ohr,
sprach darauf verwirrt, zeigte einen taumligen, unsicheren Gang
und liess die rechte Körperhälfte hängen. Am nächsten Morgen
war ein rechtsseitiges Othaematom und zugleich ausgesprochene
Aphasie mit Parese des rechten Beines zu constatiren.

Beim Gehen taumelte er und schleppte das rechte Bein
nach. Der Händedruck war beiderseits schwach, links etwas
schwächer als rechts. Im Gesichte keine sichtbaren Lähmungen.
Die Sensibilität allgemein etwas abgestumpft. P. 90. Respiration
beschleunigt, etwa 22. Häufiger Husten ohne Auswurf. Rassel-
geräusche beiderseits in den unteren Lungenpartien. Das Gehör
war intact.

Die Aphasie äusserte sich in folgender Weise. Er sprach
eine ganze Weile lang ohne jeden Anstoss, endlich am Schlusse
eines Satzes kam ein falsches Wort ohne jeden Accent heraus.
Fragte man ihn nun genau nach dem eben gesprochenen Worte,
so machte er den Versuch, es zu verbessern, und producirte falsche
Wörter und Sylben regellos durcheinander gemischt, ein nur
schwer nachzuschreibendes Kauderwelsch. Auf einzelne dazwischen
geworfene Fragen giebt er wohl auch ganze tadellos richtige
Sätze zur Antwort. Seine Antworten sind, so weit er der Sprache
mächtig ist, immer richtig und genau dem Sinne angemessen;
auch durch Suggestivfragen lässt sich constatiren, dass er Alles
versteht und leicht auffasst.

Es besteht Alexie. Wird ihm aber die Aufgabe gegeben,
unter einer Reihe vorgeschriebener Buchstaben einen bestimmten

4.) Kunschkel, 50 Jahre alt, Goldarbeiter, litt seit 2 Jahren
an Incontinentia urinae et alvi und liess sich deshalb am 27.
Januar 1874 auf eine innere Station des Allerheiligen-Hospitales
aufnehmen. Dort fiel er durch unmotivirte excessive Grobheit
gegen Wärterin und Arzt auf und wurde deshalb am 29. Januar
auf die Irrenabtheilung verlegt. Dort zeigte er ein unwirsches,
unfreundliches Benehmen, grosse Reizbarkeit und Zornmütigkeit
auf kleine Anlässe hin und vollständige Incontinenz des Urins
und Stuhlganges, die manchmal den Schein des Absichtlichen
trug. Von seiner Stellung im Hospitale hatte er höchst unklare
Vorstellungen. Erscheinungen von Paraplegie oder Tabes fehlten.
Das ganze Knochenskelett war hochgradig rhachitisch verkrümmt.

Am 26. März 1874 gegen Abend erhielt er bei einem Streite,
der sich im Männer-Gesellschaftssaal entwickelte und bei welchem
nicht rechtzeitig intervenirt wurde, einen Schlag ans rechte Ohr,
sprach darauf verwirrt, zeigte einen taumligen, unsicheren Gang
und liess die rechte Körperhälfte hängen. Am nächsten Morgen
war ein rechtsseitiges Othaematom und zugleich ausgesprochene
Aphasie mit Parese des rechten Beines zu constatiren.

Beim Gehen taumelte er und schleppte das rechte Bein
nach. Der Händedruck war beiderseits schwach, links etwas
schwächer als rechts. Im Gesichte keine sichtbaren Lähmungen.
Die Sensibilität allgemein etwas abgestumpft. P. 90. Respiration
beschleunigt, etwa 22. Häufiger Husten ohne Auswurf. Rassel-
geräusche beiderseits in den unteren Lungenpartien. Das Gehör
war intact.

Die Aphasie äusserte sich in folgender Weise. Er sprach
eine ganze Weile lang ohne jeden Anstoss, endlich am Schlusse
eines Satzes kam ein falsches Wort ohne jeden Accent heraus.
Fragte man ihn nun genau nach dem eben gesprochenen Worte,
so machte er den Versuch, es zu verbessern, und producirte falsche
Wörter und Sylben regellos durcheinander gemischt, ein nur
schwer nachzuschreibendes Kauderwelsch. Auf einzelne dazwischen
geworfene Fragen giebt er wohl auch ganze tadellos richtige
Sätze zur Antwort. Seine Antworten sind, so weit er der Sprache
mächtig ist, immer richtig und genau dem Sinne angemessen;
auch durch Suggestivfragen lässt sich constatiren, dass er Alles
versteht und leicht auffasst.

Es besteht Alexie. Wird ihm aber die Aufgabe gegeben,
unter einer Reihe vorgeschriebener Buchstaben einen bestimmten

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[50/0054] 4.) Kunschkel, 50 Jahre alt, Goldarbeiter, litt seit 2 Jahren an Incontinentia urinae et alvi und liess sich deshalb am 27. Januar 1874 auf eine innere Station des Allerheiligen-Hospitales aufnehmen. Dort fiel er durch unmotivirte excessive Grobheit gegen Wärterin und Arzt auf und wurde deshalb am 29. Januar auf die Irrenabtheilung verlegt. Dort zeigte er ein unwirsches, unfreundliches Benehmen, grosse Reizbarkeit und Zornmütigkeit auf kleine Anlässe hin und vollständige Incontinenz des Urins und Stuhlganges, die manchmal den Schein des Absichtlichen trug. Von seiner Stellung im Hospitale hatte er höchst unklare Vorstellungen. Erscheinungen von Paraplegie oder Tabes fehlten. Das ganze Knochenskelett war hochgradig rhachitisch verkrümmt. Am 26. März 1874 gegen Abend erhielt er bei einem Streite, der sich im Männer-Gesellschaftssaal entwickelte und bei welchem nicht rechtzeitig intervenirt wurde, einen Schlag ans rechte Ohr, sprach darauf verwirrt, zeigte einen taumligen, unsicheren Gang und liess die rechte Körperhälfte hängen. Am nächsten Morgen war ein rechtsseitiges Othaematom und zugleich ausgesprochene Aphasie mit Parese des rechten Beines zu constatiren. Beim Gehen taumelte er und schleppte das rechte Bein nach. Der Händedruck war beiderseits schwach, links etwas schwächer als rechts. Im Gesichte keine sichtbaren Lähmungen. Die Sensibilität allgemein etwas abgestumpft. P. 90. Respiration beschleunigt, etwa 22. Häufiger Husten ohne Auswurf. Rassel- geräusche beiderseits in den unteren Lungenpartien. Das Gehör war intact. Die Aphasie äusserte sich in folgender Weise. Er sprach eine ganze Weile lang ohne jeden Anstoss, endlich am Schlusse eines Satzes kam ein falsches Wort ohne jeden Accent heraus. Fragte man ihn nun genau nach dem eben gesprochenen Worte, so machte er den Versuch, es zu verbessern, und producirte falsche Wörter und Sylben regellos durcheinander gemischt, ein nur schwer nachzuschreibendes Kauderwelsch. Auf einzelne dazwischen geworfene Fragen giebt er wohl auch ganze tadellos richtige Sätze zur Antwort. Seine Antworten sind, so weit er der Sprache mächtig ist, immer richtig und genau dem Sinne angemessen; auch durch Suggestivfragen lässt sich constatiren, dass er Alles versteht und leicht auffasst. Es besteht Alexie. Wird ihm aber die Aufgabe gegeben, unter einer Reihe vorgeschriebener Buchstaben einen bestimmten

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/54>, abgerufen am 21.11.2024.