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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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Zu diesem jahrelang getragenen Erweichungsheerde gesellt
sich nun ein zweiter in der linken Hemisphäre, welcher Aphasie
und rechtsseitige Hemiplegie bewirkt und binnen kurzem tödtet.
Das Herabhängen des Unterkiefers, die absolute Unbeweglichkeit
der Zunge und das Unvermögen zu schlingen, dürfen nicht als
blosse Vorläufer des herannahenden Todes aufgefasst werden;
denn sie traten ein, als noch volles Bewusstsein und Verständniss
der Situation vorhanden waren. Sie sind ebenso wie die
Aphasie als durch die Zerstörung des Marklagers be-
dingt zu betrachten,
da die grossen Ganglien bis auf die
kleine Cyste im Streifenhügel nichts Abnormes boten. Endlich
ist noch die Atrophie aller Windungen hervorzuheben, welche
auch in diesem Falle die Heerderkrankung des Gehirnes begleitet.

Der Fall Itzigsohn, auf einer syphilitischen Heerderkran-
kung des Gehirnes beruhend, ist sichtlich keine rein motorische
Aphasie; denn letztere könnte die Agraphie nicht zur Folge haben.
Nun ist aber die Agraphie nicht absolut, sondern nur soweit das
spontane Schreiben oder das Schreiben nach Dictat in Frage
kommt. Da das Vermögen nachzuschreiben erhalten ist, so muss
die Bahn a b (s. oben pag. 28) intact sein, die Schreibstörung be-
ruht also auf Unterbrechung der Bahn a1 b, welche die Klang-
bilder mit dem psychomotorischen Centrum der Schreibbewegun-
gen verknüpft. Aus Allem wird wahrscheinlich, dass die Tiefe
und gefässreiche Bucht, in welcher Vorderspalte und Oberspalte
zusammenlaufen, den Ausgangspunkt des pathologischen Processes
bildet. Derselbe dürfte, da nur in sehr seltenen Fällen durch
Tumoren Aphasie entsteht, weniger eine gummöse Neubildung, als
eine syphilitische Encephalitis sein. Uebrigens lässt die partielle
Betheiligung des sensorischen Sprachcentrums auf eine ziemlich
erhebliche Ausdehnung des Heerdes schliessen.

Der nun folgende Fall schliesst sich natürlich an die eben
berichteten an.



7.) Karl Seidel, Tagarbeiter, 60 Jahre alt, erkrankte am 7.
Mai 1874. Der Anfall ereilte ihn auf einer Leiter stehend; er
konnte sich festhalten, bis er heruntergeholt wurde. Er war
taumlig und sprachlos, konnte aber noch nach Hause gehen, ohne
geführt zu werden. Zu Hause wurde rechtsseitige Lähmung be-
merkt; er lag nun 24 Stunden soporös da und wurde am nächsten

Zu diesem jahrelang getragenen Erweichungsheerde gesellt
sich nun ein zweiter in der linken Hemisphäre, welcher Aphasie
und rechtsseitige Hemiplegie bewirkt und binnen kurzem tödtet.
Das Herabhängen des Unterkiefers, die absolute Unbeweglichkeit
der Zunge und das Unvermögen zu schlingen, dürfen nicht als
blosse Vorläufer des herannahenden Todes aufgefasst werden;
denn sie traten ein, als noch volles Bewusstsein und Verständniss
der Situation vorhanden waren. Sie sind ebenso wie die
Aphasie als durch die Zerstörung des Marklagers be-
dingt zu betrachten,
da die grossen Ganglien bis auf die
kleine Cyste im Streifenhügel nichts Abnormes boten. Endlich
ist noch die Atrophie aller Windungen hervorzuheben, welche
auch in diesem Falle die Heerderkrankung des Gehirnes begleitet.

Der Fall Itzigsohn, auf einer syphilitischen Heerderkran-
kung des Gehirnes beruhend, ist sichtlich keine rein motorische
Aphasie; denn letztere könnte die Agraphie nicht zur Folge haben.
Nun ist aber die Agraphie nicht absolut, sondern nur soweit das
spontane Schreiben oder das Schreiben nach Dictat in Frage
kommt. Da das Vermögen nachzuschreiben erhalten ist, so muss
die Bahn α β (s. oben pag. 28) intact sein, die Schreibstörung be-
ruht also auf Unterbrechung der Bahn a1 β, welche die Klang-
bilder mit dem psychomotorischen Centrum der Schreibbewegun-
gen verknüpft. Aus Allem wird wahrscheinlich, dass die Tiefe
und gefässreiche Bucht, in welcher Vorderspalte und Oberspalte
zusammenlaufen, den Ausgangspunkt des pathologischen Processes
bildet. Derselbe dürfte, da nur in sehr seltenen Fällen durch
Tumoren Aphasie entsteht, weniger eine gummöse Neubildung, als
eine syphilitische Encephalitis sein. Uebrigens lässt die partielle
Betheiligung des sensorischen Sprachcentrums auf eine ziemlich
erhebliche Ausdehnung des Heerdes schliessen.

Der nun folgende Fall schliesst sich natürlich an die eben
berichteten an.



7.) Karl Seidel, Tagarbeiter, 60 Jahre alt, erkrankte am 7.
Mai 1874. Der Anfall ereilte ihn auf einer Leiter stehend; er
konnte sich festhalten, bis er heruntergeholt wurde. Er war
taumlig und sprachlos, konnte aber noch nach Hause gehen, ohne
geführt zu werden. Zu Hause wurde rechtsseitige Lähmung be-
merkt; er lag nun 24 Stunden soporös da und wurde am nächsten

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[59/0063] Zu diesem jahrelang getragenen Erweichungsheerde gesellt sich nun ein zweiter in der linken Hemisphäre, welcher Aphasie und rechtsseitige Hemiplegie bewirkt und binnen kurzem tödtet. Das Herabhängen des Unterkiefers, die absolute Unbeweglichkeit der Zunge und das Unvermögen zu schlingen, dürfen nicht als blosse Vorläufer des herannahenden Todes aufgefasst werden; denn sie traten ein, als noch volles Bewusstsein und Verständniss der Situation vorhanden waren. Sie sind ebenso wie die Aphasie als durch die Zerstörung des Marklagers be- dingt zu betrachten, da die grossen Ganglien bis auf die kleine Cyste im Streifenhügel nichts Abnormes boten. Endlich ist noch die Atrophie aller Windungen hervorzuheben, welche auch in diesem Falle die Heerderkrankung des Gehirnes begleitet. Der Fall Itzigsohn, auf einer syphilitischen Heerderkran- kung des Gehirnes beruhend, ist sichtlich keine rein motorische Aphasie; denn letztere könnte die Agraphie nicht zur Folge haben. Nun ist aber die Agraphie nicht absolut, sondern nur soweit das spontane Schreiben oder das Schreiben nach Dictat in Frage kommt. Da das Vermögen nachzuschreiben erhalten ist, so muss die Bahn α β (s. oben pag. 28) intact sein, die Schreibstörung be- ruht also auf Unterbrechung der Bahn a1 β, welche die Klang- bilder mit dem psychomotorischen Centrum der Schreibbewegun- gen verknüpft. Aus Allem wird wahrscheinlich, dass die Tiefe und gefässreiche Bucht, in welcher Vorderspalte und Oberspalte zusammenlaufen, den Ausgangspunkt des pathologischen Processes bildet. Derselbe dürfte, da nur in sehr seltenen Fällen durch Tumoren Aphasie entsteht, weniger eine gummöse Neubildung, als eine syphilitische Encephalitis sein. Uebrigens lässt die partielle Betheiligung des sensorischen Sprachcentrums auf eine ziemlich erhebliche Ausdehnung des Heerdes schliessen. Der nun folgende Fall schliesst sich natürlich an die eben berichteten an. 7.) Karl Seidel, Tagarbeiter, 60 Jahre alt, erkrankte am 7. Mai 1874. Der Anfall ereilte ihn auf einer Leiter stehend; er konnte sich festhalten, bis er heruntergeholt wurde. Er war taumlig und sprachlos, konnte aber noch nach Hause gehen, ohne geführt zu werden. Zu Hause wurde rechtsseitige Lähmung be- merkt; er lag nun 24 Stunden soporös da und wurde am nächsten

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/63>, abgerufen am 21.11.2024.