Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

Bild:
<< vorherige Seite

chischen Heerderkrankungen. Was unter denselben zu
verstehen ist, lässt sich durch Beispiele am besten erläutern.
Meynert fasst die maniacalischen Bewegungen als durch centrale
Reize bedingte Erregungen der motorischen Gehirnoberfläche auf
Sind solche maniacalische Bewegungen auf ein umgrenztes Mus-
kelgebiet beschränkt und längere Zeit constant*), so ist man be-
rechtigt, eine circumscripte Rindenerkrankung anzunehmen, welche
das betreffende psychische Heerdsymptom setzte. Die Asymbolie
ist eine derartige nur durch psychische Symptome diagnosticir-
bare Heerderkrankung. Diejenigen Psychosen (gewöhnlich zum
Wahnsinn gerechnet), welche aus Gehörs- oder Gesichtshalluci-
nationen entstehen, sind wahrscheinlich, ebenso wie die maniaca-
lischen Bewegungen, durch central örtlichen Reiz verursacht. Dass
der Ursprung der Sensationen in die Sinnesorgane und demge-
mäss in die Aussenwelt verlegt wird, ist dann ebenso wenig be-
fremdend, wie der Schmerz, den der Amputirte in die abgeschnittene
kleine Zehe verlegt. Psychische Heerderkrankungen
sind demnach durch Symptome der Reizung oder des
Ausfalles circumscripter Gruppen psychischer Ele-
mente characterisirt.

Auch durch die Unterbrechung der Leitungsfasern, welche
die psychischen Elemente unter einander associiren, also durch
Erkrankungen des Grosshirnmarkes, können psychische Heerd-
symptome bedingt werden, wie an dem Beispiele der Aphasie
ausführlich gezeigt worden ist. So oft die Erkrankungen des
Grosshirnmarkes undiagnosticirt bleiben, so gross ist der Irrtum,
dessen Functionen für geringfügig zu halten. Alle höheren geisti-
gen Processe wickeln sich wahrscheinlich im Grosshirnmarke ab.
Die weitere Forschung im Gebiete der psychischen Heerderkran-
kungen ist, aus leicht ersichtlichen Gründen, vorwiegend dem
Psychiater vorbehalten. Jedoch wird eine richtige Verwerthung der
Sectionsbefunde erst dann möglich sein, wenn die Anatomie des
Grosshirnmarkes durch Schnittpräparate (denn die Faserung er-
weist sich dazu unzureichend) genügend sicher gestellt sein wird.
Verfasser ist mit dieser Untersuchung beschäftigt, und hofft, da
er das Material dazu, in Schnittreihen vom Hunde- und Affenge-
hirne bestehend, fast vollständig angefertigt hat, in nicht zu langer
Zeit damit vor die Oeffentlichkeit zu treten.

Breslau, im Mai 1874.

*) Einen solchen Fall habe ich beobachtet und in der kürzlich erschie-
nenen Dissertation von Czarnowsky veröffentlicht.

chischen Heerderkrankungen. Was unter denselben zu
verstehen ist, lässt sich durch Beispiele am besten erläutern.
Meynert fasst die maniacalischen Bewegungen als durch centrale
Reize bedingte Erregungen der motorischen Gehirnoberfläche auf
Sind solche maniacalische Bewegungen auf ein umgrenztes Mus-
kelgebiet beschränkt und längere Zeit constant*), so ist man be-
rechtigt, eine circumscripte Rindenerkrankung anzunehmen, welche
das betreffende psychische Heerdsymptom setzte. Die Asymbolie
ist eine derartige nur durch psychische Symptome diagnosticir-
bare Heerderkrankung. Diejenigen Psychosen (gewöhnlich zum
Wahnsinn gerechnet), welche aus Gehörs- oder Gesichtshalluci-
nationen entstehen, sind wahrscheinlich, ebenso wie die maniaca-
lischen Bewegungen, durch central örtlichen Reiz verursacht. Dass
der Ursprung der Sensationen in die Sinnesorgane und demge-
mäss in die Aussenwelt verlegt wird, ist dann ebenso wenig be-
fremdend, wie der Schmerz, den der Amputirte in die abgeschnittene
kleine Zehe verlegt. Psychische Heerderkrankungen
sind demnach durch Symptome der Reizung oder des
Ausfalles circumscripter Gruppen psychischer Ele-
mente characterisirt.

Auch durch die Unterbrechung der Leitungsfasern, welche
die psychischen Elemente unter einander associiren, also durch
Erkrankungen des Grosshirnmarkes, können psychische Heerd-
symptome bedingt werden, wie an dem Beispiele der Aphasie
ausführlich gezeigt worden ist. So oft die Erkrankungen des
Grosshirnmarkes undiagnosticirt bleiben, so gross ist der Irrtum,
dessen Functionen für geringfügig zu halten. Alle höheren geisti-
gen Processe wickeln sich wahrscheinlich im Grosshirnmarke ab.
Die weitere Forschung im Gebiete der psychischen Heerderkran-
kungen ist, aus leicht ersichtlichen Gründen, vorwiegend dem
Psychiater vorbehalten. Jedoch wird eine richtige Verwerthung der
Sectionsbefunde erst dann möglich sein, wenn die Anatomie des
Grosshirnmarkes durch Schnittpräparate (denn die Faserung er-
weist sich dazu unzureichend) genügend sicher gestellt sein wird.
Verfasser ist mit dieser Untersuchung beschäftigt, und hofft, da
er das Material dazu, in Schnittreihen vom Hunde- und Affenge-
hirne bestehend, fast vollständig angefertigt hat, in nicht zu langer
Zeit damit vor die Oeffentlichkeit zu treten.

Breslau, im Mai 1874.

*) Einen solchen Fall habe ich beobachtet und in der kürzlich erschie-
nenen Dissertation von Czarnowsky veröffentlicht.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0074" n="70"/>
chischen Heerderkrankungen.</hi> Was unter denselben zu<lb/>
verstehen ist, lässt sich durch Beispiele am besten erläutern.<lb/>
Meynert fasst die maniacalischen Bewegungen als durch centrale<lb/>
Reize bedingte Erregungen der motorischen Gehirnoberfläche auf<lb/>
Sind solche maniacalische Bewegungen auf ein umgrenztes Mus-<lb/>
kelgebiet beschränkt und längere Zeit constant<note place="foot" n="*)">Einen solchen Fall habe ich beobachtet und in der kürzlich erschie-<lb/>
nenen Dissertation von Czarnowsky veröffentlicht.</note>, so ist man be-<lb/>
rechtigt, eine circumscripte Rindenerkrankung anzunehmen, welche<lb/>
das betreffende psychische Heerdsymptom setzte. Die Asymbolie<lb/>
ist eine derartige nur durch psychische Symptome diagnosticir-<lb/>
bare Heerderkrankung. Diejenigen Psychosen (gewöhnlich zum<lb/>
Wahnsinn gerechnet), welche aus Gehörs- oder Gesichtshalluci-<lb/>
nationen entstehen, sind wahrscheinlich, ebenso wie die maniaca-<lb/>
lischen Bewegungen, durch central örtlichen Reiz verursacht. Dass<lb/>
der Ursprung der Sensationen in die Sinnesorgane und demge-<lb/>
mäss in die Aussenwelt verlegt wird, ist dann ebenso wenig be-<lb/>
fremdend, wie der Schmerz, den der Amputirte in die abgeschnittene<lb/>
kleine Zehe verlegt. <hi rendition="#g">Psychische Heerderkrankungen<lb/>
sind demnach durch Symptome der Reizung oder des<lb/>
Ausfalles circumscripter Gruppen psychischer Ele-<lb/>
mente characterisirt.</hi></p><lb/>
          <p>Auch durch die Unterbrechung der Leitungsfasern, welche<lb/>
die psychischen Elemente unter einander associiren, also durch<lb/>
Erkrankungen des Grosshirnmarkes, können psychische Heerd-<lb/>
symptome bedingt werden, wie an dem Beispiele der Aphasie<lb/>
ausführlich gezeigt worden ist. So oft die Erkrankungen des<lb/>
Grosshirnmarkes undiagnosticirt bleiben, so gross ist der Irrtum,<lb/>
dessen Functionen für geringfügig zu halten. Alle höheren geisti-<lb/>
gen Processe wickeln sich wahrscheinlich im Grosshirnmarke ab.<lb/>
Die weitere Forschung im Gebiete der psychischen Heerderkran-<lb/>
kungen ist, aus leicht ersichtlichen Gründen, vorwiegend dem<lb/>
Psychiater vorbehalten. Jedoch wird eine richtige Verwerthung der<lb/>
Sectionsbefunde erst dann möglich sein, wenn die Anatomie des<lb/>
Grosshirnmarkes durch Schnittpräparate (denn die Faserung er-<lb/>
weist sich dazu unzureichend) genügend sicher gestellt sein wird.<lb/>
Verfasser ist mit dieser Untersuchung beschäftigt, und hofft, da<lb/>
er das Material dazu, in Schnittreihen vom Hunde- und Affenge-<lb/>
hirne bestehend, fast vollständig angefertigt hat, in nicht zu langer<lb/>
Zeit damit vor die Oeffentlichkeit zu treten.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Breslau,</hi> im Mai 1874.</p>
        </div>
      </div><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[70/0074] chischen Heerderkrankungen. Was unter denselben zu verstehen ist, lässt sich durch Beispiele am besten erläutern. Meynert fasst die maniacalischen Bewegungen als durch centrale Reize bedingte Erregungen der motorischen Gehirnoberfläche auf Sind solche maniacalische Bewegungen auf ein umgrenztes Mus- kelgebiet beschränkt und längere Zeit constant *), so ist man be- rechtigt, eine circumscripte Rindenerkrankung anzunehmen, welche das betreffende psychische Heerdsymptom setzte. Die Asymbolie ist eine derartige nur durch psychische Symptome diagnosticir- bare Heerderkrankung. Diejenigen Psychosen (gewöhnlich zum Wahnsinn gerechnet), welche aus Gehörs- oder Gesichtshalluci- nationen entstehen, sind wahrscheinlich, ebenso wie die maniaca- lischen Bewegungen, durch central örtlichen Reiz verursacht. Dass der Ursprung der Sensationen in die Sinnesorgane und demge- mäss in die Aussenwelt verlegt wird, ist dann ebenso wenig be- fremdend, wie der Schmerz, den der Amputirte in die abgeschnittene kleine Zehe verlegt. Psychische Heerderkrankungen sind demnach durch Symptome der Reizung oder des Ausfalles circumscripter Gruppen psychischer Ele- mente characterisirt. Auch durch die Unterbrechung der Leitungsfasern, welche die psychischen Elemente unter einander associiren, also durch Erkrankungen des Grosshirnmarkes, können psychische Heerd- symptome bedingt werden, wie an dem Beispiele der Aphasie ausführlich gezeigt worden ist. So oft die Erkrankungen des Grosshirnmarkes undiagnosticirt bleiben, so gross ist der Irrtum, dessen Functionen für geringfügig zu halten. Alle höheren geisti- gen Processe wickeln sich wahrscheinlich im Grosshirnmarke ab. Die weitere Forschung im Gebiete der psychischen Heerderkran- kungen ist, aus leicht ersichtlichen Gründen, vorwiegend dem Psychiater vorbehalten. Jedoch wird eine richtige Verwerthung der Sectionsbefunde erst dann möglich sein, wenn die Anatomie des Grosshirnmarkes durch Schnittpräparate (denn die Faserung er- weist sich dazu unzureichend) genügend sicher gestellt sein wird. Verfasser ist mit dieser Untersuchung beschäftigt, und hofft, da er das Material dazu, in Schnittreihen vom Hunde- und Affenge- hirne bestehend, fast vollständig angefertigt hat, in nicht zu langer Zeit damit vor die Oeffentlichkeit zu treten. Breslau, im Mai 1874. *) Einen solchen Fall habe ich beobachtet und in der kürzlich erschie- nenen Dissertation von Czarnowsky veröffentlicht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/74
Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/74>, abgerufen am 21.11.2024.