Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Drittes Buch, viertes Capitel. Grad des Reichthums und der Ueppigkeit eines jedenVolks, von welcher Art seine Staatsverfassung seyn mag. Jn dem armen Athen wurde ein guter Feld- Herr unendlichmal höher geschäzt, als ein guter Mah- ler; in dem reichen und wollüstigen Athen giebt man sich keine Mühe zu untersuchen, wer der tüchtigste sey, ein Kriegsheer anzuführen; man hat wichtigere Dinge zu entscheiden; die Frage ist, welche unter etlichen Tän- zerinnen die artigsten Füsse hat, und die schönsten Sprünge macht? ob die Venus des Praxiteles, oder des Alcamenes die schönere ist? -- Die Künste des Genie von der ersten Classe führen für sich allein selten zum Reichthum. Die grossen Talente, die großen Ver- dienste und Tugenden, die dazu erfodert werden, fin- den sich gemeiniglich nur in armen und emporstreben- den Republiken, die alles, was man für sie thut, nur mit Lorbeerkränzen bezahlen. Jn Staaten aber, wo Reich thum und Ueppigkeit schon die Oberhand gewon- nen haben, braucht man alle diese Talente und Tugen- den nicht, welche die Regierungskunst zu erfodern scheint. Man kann in solchen Staaten Geseze geben, ohne ein Solon zu seyn; man kann ihre Kriegs- heere anführen, ohne ein Leonidas oder Themistokles zu seyn. Perikles, Alcibiades, regierten zu Athen den Staat, und führten die Völker an; obgleich jener nur ein Redner war, und dieser keine andre Kunst kannte, als die Kunst sich der Herzen zu bemeistern. Jn solchen Republiken hat das Volk die Eigenschaften, die in einem despotischen Staate der Einzige hat, der kein G 5
Drittes Buch, viertes Capitel. Grad des Reichthums und der Ueppigkeit eines jedenVolks, von welcher Art ſeine Staatsverfaſſung ſeyn mag. Jn dem armen Athen wurde ein guter Feld- Herr unendlichmal hoͤher geſchaͤzt, als ein guter Mah- ler; in dem reichen und wolluͤſtigen Athen giebt man ſich keine Muͤhe zu unterſuchen, wer der tuͤchtigſte ſey, ein Kriegsheer anzufuͤhren; man hat wichtigere Dinge zu entſcheiden; die Frage iſt, welche unter etlichen Taͤn- zerinnen die artigſten Fuͤſſe hat, und die ſchoͤnſten Spruͤnge macht? ob die Venus des Praxiteles, oder des Alcamenes die ſchoͤnere iſt? ‒‒ Die Kuͤnſte des Genie von der erſten Claſſe fuͤhren fuͤr ſich allein ſelten zum Reichthum. Die groſſen Talente, die großen Ver- dienſte und Tugenden, die dazu erfodert werden, fin- den ſich gemeiniglich nur in armen und emporſtreben- den Republiken, die alles, was man fuͤr ſie thut, nur mit Lorbeerkraͤnzen bezahlen. Jn Staaten aber, wo Reich thum und Ueppigkeit ſchon die Oberhand gewon- nen haben, braucht man alle dieſe Talente und Tugen- den nicht, welche die Regierungskunſt zu erfodern ſcheint. Man kann in ſolchen Staaten Geſeze geben, ohne ein Solon zu ſeyn; man kann ihre Kriegs- heere anfuͤhren, ohne ein Leonidas oder Themiſtokles zu ſeyn. Perikles, Alcibiades, regierten zu Athen den Staat, und fuͤhrten die Voͤlker an; obgleich jener nur ein Redner war, und dieſer keine andre Kunſt kannte, als die Kunſt ſich der Herzen zu bemeiſtern. Jn ſolchen Republiken hat das Volk die Eigenſchaften, die in einem deſpotiſchen Staate der Einzige hat, der kein G 5
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Drittes Buch, viertes Capitel.
Grad des Reichthums und der Ueppigkeit eines jeden
Volks, von welcher Art ſeine Staatsverfaſſung ſeyn
mag. Jn dem armen Athen wurde ein guter Feld-
Herr unendlichmal hoͤher geſchaͤzt, als ein guter Mah-
ler; in dem reichen und wolluͤſtigen Athen giebt man
ſich keine Muͤhe zu unterſuchen, wer der tuͤchtigſte ſey,
ein Kriegsheer anzufuͤhren; man hat wichtigere Dinge
zu entſcheiden; die Frage iſt, welche unter etlichen Taͤn-
zerinnen die artigſten Fuͤſſe hat, und die ſchoͤnſten
Spruͤnge macht? ob die Venus des Praxiteles, oder
des Alcamenes die ſchoͤnere iſt? ‒‒ Die Kuͤnſte des
Genie von der erſten Claſſe fuͤhren fuͤr ſich allein ſelten
zum Reichthum. Die groſſen Talente, die großen Ver-
dienſte und Tugenden, die dazu erfodert werden, fin-
den ſich gemeiniglich nur in armen und emporſtreben-
den Republiken, die alles, was man fuͤr ſie thut, nur
mit Lorbeerkraͤnzen bezahlen. Jn Staaten aber, wo
Reich thum und Ueppigkeit ſchon die Oberhand gewon-
nen haben, braucht man alle dieſe Talente und Tugen-
den nicht, welche die Regierungskunſt zu erfodern
ſcheint. Man kann in ſolchen Staaten Geſeze geben,
ohne ein Solon zu ſeyn; man kann ihre Kriegs-
heere anfuͤhren, ohne ein Leonidas oder Themiſtokles
zu ſeyn. Perikles, Alcibiades, regierten zu Athen
den Staat, und fuͤhrten die Voͤlker an; obgleich jener
nur ein Redner war, und dieſer keine andre Kunſt
kannte, als die Kunſt ſich der Herzen zu bemeiſtern.
Jn ſolchen Republiken hat das Volk die Eigenſchaften,
die in einem deſpotiſchen Staate der Einzige hat, der
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