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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Drittes Buch, fünftes Capitel.
Olympischen Spielen, in eben dem Aufzug worinn die
drey Göttinnen um den Preiß der Schönheit stritten,
das ganze Griechenland zum Richter über die ihrige zu
machen. Die Venus eines jeden Volks ist nichts an-
ders als die Abbildung eines Weibes, die bey einer
allgemeinen Versammlung dieses Volks für diejenige er-
klärt würde, bey der sich die National-Schönheit im
höchsten Grade befinde. Allein welches unter so vieler-
ley Modellen ist denn an sich selbst das schönste? Der
Grieche wird für seine rosenwangichte, der Mohr für
seine rabenschwarze, der Perser für seine schlanke, und
der Serer für seine runde Venus mit dem dreyfachen
Kinn streiten. Wer soll den Ausschlag geben? Wir
wollen es versuchen. Gesezt, es würde eine allgemeine
Versammlung angestellt, wozu eine jede Nation den
schönsten Mann und das schönste Weib, nach ihrem
National-Modell zu urtheilen, geschikt hätten; und wo
die Weiber zu entscheiden hätten, welcher unter allen
diesen Mitwerbern um den Preiß der Schönheit der
schönste Mann, und die Männer, welche unter allen
das schönste Weib wäre: Jch sage also, man würde
gar bald diejenigen aus allen übrigen aussondern, die
unter diesen milden und gemäßigten Himmelsstrichen ge-
bohren worden, wo die Natur allen ihren Werken ein feine-
res Ebenmaaß der Gestalt, und eine angenehmere Mischung
der Farben zu geben pflegt. Denn die vorzügliche
Schönheit der Natur in den gemäßigten Zonen erstrekt
sich vom Menschen bis auf die Pflanzen. Unter diesen
Auscrlesnen von beyden Geschlechtern würde vielleicht

der
[Agath. I. Th.] H

Drittes Buch, fuͤnftes Capitel.
Olympiſchen Spielen, in eben dem Aufzug worinn die
drey Goͤttinnen um den Preiß der Schoͤnheit ſtritten,
das ganze Griechenland zum Richter uͤber die ihrige zu
machen. Die Venus eines jeden Volks iſt nichts an-
ders als die Abbildung eines Weibes, die bey einer
allgemeinen Verſammlung dieſes Volks fuͤr diejenige er-
klaͤrt wuͤrde, bey der ſich die National-Schoͤnheit im
hoͤchſten Grade befinde. Allein welches unter ſo vieler-
ley Modellen iſt denn an ſich ſelbſt das ſchoͤnſte? Der
Grieche wird fuͤr ſeine roſenwangichte, der Mohr fuͤr
ſeine rabenſchwarze, der Perſer fuͤr ſeine ſchlanke, und
der Serer fuͤr ſeine runde Venus mit dem dreyfachen
Kinn ſtreiten. Wer ſoll den Ausſchlag geben? Wir
wollen es verſuchen. Geſezt, es wuͤrde eine allgemeine
Verſammlung angeſtellt, wozu eine jede Nation den
ſchoͤnſten Mann und das ſchoͤnſte Weib, nach ihrem
National-Modell zu urtheilen, geſchikt haͤtten; und wo
die Weiber zu entſcheiden haͤtten, welcher unter allen
dieſen Mitwerbern um den Preiß der Schoͤnheit der
ſchoͤnſte Mann, und die Maͤnner, welche unter allen
das ſchoͤnſte Weib waͤre: Jch ſage alſo, man wuͤrde
gar bald diejenigen aus allen uͤbrigen ausſondern, die
unter dieſen milden und gemaͤßigten Himmelsſtrichen ge-
bohren worden, wo die Natur allen ihren Werken ein feine-
res Ebenmaaß der Geſtalt, und eine angenehmere Miſchung
der Farben zu geben pflegt. Denn die vorzuͤgliche
Schoͤnheit der Natur in den gemaͤßigten Zonen erſtrekt
ſich vom Menſchen bis auf die Pflanzen. Unter dieſen
Auscrleſnen von beyden Geſchlechtern wuͤrde vielleicht

der
[Agath. I. Th.] H
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[113/0135] Drittes Buch, fuͤnftes Capitel. Olympiſchen Spielen, in eben dem Aufzug worinn die drey Goͤttinnen um den Preiß der Schoͤnheit ſtritten, das ganze Griechenland zum Richter uͤber die ihrige zu machen. Die Venus eines jeden Volks iſt nichts an- ders als die Abbildung eines Weibes, die bey einer allgemeinen Verſammlung dieſes Volks fuͤr diejenige er- klaͤrt wuͤrde, bey der ſich die National-Schoͤnheit im hoͤchſten Grade befinde. Allein welches unter ſo vieler- ley Modellen iſt denn an ſich ſelbſt das ſchoͤnſte? Der Grieche wird fuͤr ſeine roſenwangichte, der Mohr fuͤr ſeine rabenſchwarze, der Perſer fuͤr ſeine ſchlanke, und der Serer fuͤr ſeine runde Venus mit dem dreyfachen Kinn ſtreiten. Wer ſoll den Ausſchlag geben? Wir wollen es verſuchen. Geſezt, es wuͤrde eine allgemeine Verſammlung angeſtellt, wozu eine jede Nation den ſchoͤnſten Mann und das ſchoͤnſte Weib, nach ihrem National-Modell zu urtheilen, geſchikt haͤtten; und wo die Weiber zu entſcheiden haͤtten, welcher unter allen dieſen Mitwerbern um den Preiß der Schoͤnheit der ſchoͤnſte Mann, und die Maͤnner, welche unter allen das ſchoͤnſte Weib waͤre: Jch ſage alſo, man wuͤrde gar bald diejenigen aus allen uͤbrigen ausſondern, die unter dieſen milden und gemaͤßigten Himmelsſtrichen ge- bohren worden, wo die Natur allen ihren Werken ein feine- res Ebenmaaß der Geſtalt, und eine angenehmere Miſchung der Farben zu geben pflegt. Denn die vorzuͤgliche Schoͤnheit der Natur in den gemaͤßigten Zonen erſtrekt ſich vom Menſchen bis auf die Pflanzen. Unter dieſen Auscrleſnen von beyden Geſchlechtern wuͤrde vielleicht der [Agath. I. Th.] H

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/135>, abgerufen am 23.11.2024.