Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Drittes Buch, fünftes Capitel. hafte und ceremonienvolle Höflichkeit der Morgenlän-der; das verbindliche Wesen, der Schein von Leutselig- keit, so der erste seinen kleinsten Handlungen zu geben weiß, muß vor dem steifen Ernst des Persers, oder der rauhen Gutherzigkeit des Scythen eben so sehr den Vorzug erhalten, als der Puz einer Dame von Smyrna, der die Schönheit weder ganz verhüllt, noch ganz den Augen preiß giebt, vor der Vermummung der Morgen- länderin oder der thierischen Blöße einer Wilden. Das Muster der aufgeklärtesten und geselligsten Nation scheint also die wahre Regul des sittlichen Schönen, oder des Anständigen zu seyn, und Athen und Smyrna sind die Schulen, worinn man seinen Geschmak und seine Sit- ten bilden muß. Allein nachdem wir eine Regul für das Schöne gefunden haben, was für eine werden wir für das, was Recht ist finden? wovon so verschiedene und widersprechende Begriffe unter den Menschen herr- schen, daß eben dieselbe Handlung, die bey dem einen Volke mit Lorbeerkränzen und Statuen belohnt wird, bey der andern eine schmäliche Todesstrafe verdient; und daß kaum ein Laster ist, welches nicht irgendwo seinen Altar und seinen Priester habe. Es ist wahr, die Ge- seze sind bey dem Volke, welchem sie gegeben sind, die Richtschnur des Rechts und Unrechts; allein was bey diesem Volk durch das Gesez befohlen wird, wird bey einem andern durch das Gesez verboten. Die Frage ist also: Giebt es nicht ein allgemeines Gesez, welches bestimmt, was an sich selbst Recht ist? Jch antworte ja, und dieses allgemeine Gesez kann kein andres seyn, als H 2
Drittes Buch, fuͤnftes Capitel. hafte und ceremonienvolle Hoͤflichkeit der Morgenlaͤn-der; das verbindliche Weſen, der Schein von Leutſelig- keit, ſo der erſte ſeinen kleinſten Handlungen zu geben weiß, muß vor dem ſteifen Ernſt des Perſers, oder der rauhen Gutherzigkeit des Scythen eben ſo ſehr den Vorzug erhalten, als der Puz einer Dame von Smyrna, der die Schoͤnheit weder ganz verhuͤllt, noch ganz den Augen preiß giebt, vor der Vermummung der Morgen- laͤnderin oder der thieriſchen Bloͤße einer Wilden. Das Muſter der aufgeklaͤrteſten und geſelligſten Nation ſcheint alſo die wahre Regul des ſittlichen Schoͤnen, oder des Anſtaͤndigen zu ſeyn, und Athen und Smyrna ſind die Schulen, worinn man ſeinen Geſchmak und ſeine Sit- ten bilden muß. Allein nachdem wir eine Regul fuͤr das Schoͤne gefunden haben, was fuͤr eine werden wir fuͤr das, was Recht iſt finden? wovon ſo verſchiedene und widerſprechende Begriffe unter den Menſchen herr- ſchen, daß eben dieſelbe Handlung, die bey dem einen Volke mit Lorbeerkraͤnzen und Statuen belohnt wird, bey der andern eine ſchmaͤliche Todesſtrafe verdient; und daß kaum ein Laſter iſt, welches nicht irgendwo ſeinen Altar und ſeinen Prieſter habe. Es iſt wahr, die Ge- ſeze ſind bey dem Volke, welchem ſie gegeben ſind, die Richtſchnur des Rechts und Unrechts; allein was bey dieſem Volk durch das Geſez befohlen wird, wird bey einem andern durch das Geſez verboten. Die Frage iſt alſo: Giebt es nicht ein allgemeines Geſez, welches beſtimmt, was an ſich ſelbſt Recht iſt? Jch antworte ja, und dieſes allgemeine Geſez kann kein andres ſeyn, als H 2
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0137" n="115"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Drittes Buch, fuͤnftes Capitel.</hi></fw><lb/> hafte und ceremonienvolle Hoͤflichkeit der Morgenlaͤn-<lb/> der; das verbindliche Weſen, der Schein von Leutſelig-<lb/> keit, ſo der erſte ſeinen kleinſten Handlungen zu geben<lb/> weiß, muß vor dem ſteifen Ernſt des Perſers, oder<lb/> der rauhen Gutherzigkeit des Scythen eben ſo ſehr den<lb/> Vorzug erhalten, als der Puz einer Dame von Smyrna,<lb/> der die Schoͤnheit weder ganz verhuͤllt, noch ganz den<lb/> Augen preiß giebt, vor der Vermummung der Morgen-<lb/> laͤnderin oder der thieriſchen Bloͤße einer Wilden. Das<lb/> Muſter der aufgeklaͤrteſten und geſelligſten Nation<lb/> ſcheint alſo die wahre Regul des ſittlichen Schoͤnen, oder<lb/> des Anſtaͤndigen zu ſeyn, und Athen und Smyrna ſind die<lb/> Schulen, worinn man ſeinen Geſchmak und ſeine Sit-<lb/> ten bilden muß. Allein nachdem wir eine Regul fuͤr<lb/> das Schoͤne gefunden haben, was fuͤr eine werden wir<lb/> fuͤr das, was Recht iſt finden? wovon ſo verſchiedene<lb/> und widerſprechende Begriffe unter den Menſchen herr-<lb/> ſchen, daß eben dieſelbe Handlung, die bey dem einen<lb/> Volke mit Lorbeerkraͤnzen und Statuen belohnt wird,<lb/> bey der andern eine ſchmaͤliche Todesſtrafe verdient; und<lb/> daß kaum ein Laſter iſt, welches nicht irgendwo ſeinen<lb/> Altar und ſeinen Prieſter habe. Es iſt wahr, die Ge-<lb/> ſeze ſind bey dem Volke, welchem ſie gegeben ſind, die<lb/> Richtſchnur des Rechts und Unrechts; allein was bey<lb/> dieſem Volk durch das Geſez befohlen wird, wird bey<lb/> einem andern durch das Geſez verboten. Die Frage<lb/> iſt alſo: Giebt es nicht ein allgemeines Geſez, welches<lb/> beſtimmt, was an ſich ſelbſt Recht iſt? Jch antworte<lb/> ja, und dieſes allgemeine Geſez kann kein andres ſeyn,<lb/> <fw place="bottom" type="sig">H 2</fw><fw place="bottom" type="catch">als</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [115/0137]
Drittes Buch, fuͤnftes Capitel.
hafte und ceremonienvolle Hoͤflichkeit der Morgenlaͤn-
der; das verbindliche Weſen, der Schein von Leutſelig-
keit, ſo der erſte ſeinen kleinſten Handlungen zu geben
weiß, muß vor dem ſteifen Ernſt des Perſers, oder
der rauhen Gutherzigkeit des Scythen eben ſo ſehr den
Vorzug erhalten, als der Puz einer Dame von Smyrna,
der die Schoͤnheit weder ganz verhuͤllt, noch ganz den
Augen preiß giebt, vor der Vermummung der Morgen-
laͤnderin oder der thieriſchen Bloͤße einer Wilden. Das
Muſter der aufgeklaͤrteſten und geſelligſten Nation
ſcheint alſo die wahre Regul des ſittlichen Schoͤnen, oder
des Anſtaͤndigen zu ſeyn, und Athen und Smyrna ſind die
Schulen, worinn man ſeinen Geſchmak und ſeine Sit-
ten bilden muß. Allein nachdem wir eine Regul fuͤr
das Schoͤne gefunden haben, was fuͤr eine werden wir
fuͤr das, was Recht iſt finden? wovon ſo verſchiedene
und widerſprechende Begriffe unter den Menſchen herr-
ſchen, daß eben dieſelbe Handlung, die bey dem einen
Volke mit Lorbeerkraͤnzen und Statuen belohnt wird,
bey der andern eine ſchmaͤliche Todesſtrafe verdient; und
daß kaum ein Laſter iſt, welches nicht irgendwo ſeinen
Altar und ſeinen Prieſter habe. Es iſt wahr, die Ge-
ſeze ſind bey dem Volke, welchem ſie gegeben ſind, die
Richtſchnur des Rechts und Unrechts; allein was bey
dieſem Volk durch das Geſez befohlen wird, wird bey
einem andern durch das Geſez verboten. Die Frage
iſt alſo: Giebt es nicht ein allgemeines Geſez, welches
beſtimmt, was an ſich ſelbſt Recht iſt? Jch antworte
ja, und dieſes allgemeine Geſez kann kein andres ſeyn,
als
H 2
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |