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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon,
alle Augenblike durch unbegreifliche Zufälle und unver-
hofte Veränderungen betrogen wird. Mit allen seinen
Vorzügen war Agathon doch in eben dieser Classe, und
und es ist also kein Wunder, daß er, ungeachtet der
tiefen Betrachtungen die er über seine Unterredung mit
dem Hippias bey sich selbst anstellte, sehr weit entfernt
war, die Gedanken zu errathen, womit dieser Sophist
izt umgieng, dessen Eitelkeit durch den schlechten Fort-
gang seines Vorhabens, und den Eigensinn dieses seltsa-
men Jünglings weit mehr beleidiget war, als er sich
hatte anmerken lassen. Agathon, wenn er das würk-
lich wäre, was er zu seyn schien, wäre (dachte der
weise Mann nicht ohne Grund) eine lebendige Wider-
legung seines Systems. Wie? sagte er zu sich selbst,
(ein Umstand, der ihm selten begegnete) ich habe mehr
als vierzig Jahre in der Welt gelebt, und unter einer
unendlichen Menge von Menschen von allen Ständen
und Classen, nicht einen einzigen angetroffen, der meine
Begriffe von der menschlichen Natur nicht bestättiget
hätte, und dieser junge Mensch sollte mich noch an die
Tugend glauben lehren? Es kann nicht seyn; er ist
ein Phantast oder ein Heuchler. Was er auch seyn
mag, ich will es ausfündig machen. -- -- Gut! Das
ist ein vortreflicher Einfall! Jch will ihn auf eine Pro-
be stellen, wo er unterliegen muß, wenn er ein Schwär-
mer, und wo er die Maske ablegen wird, wenn er ein
Comödiant ist. Er hat gegen Cyane ausgehalten, diß
hat ihn stolz und sicher gemacht. Aber das beweißt
noch nichts. Wir wollen ihn auf eine stärkere Probe

sezen;

Agathon,
alle Augenblike durch unbegreifliche Zufaͤlle und unver-
hofte Veraͤnderungen betrogen wird. Mit allen ſeinen
Vorzuͤgen war Agathon doch in eben dieſer Claſſe, und
und es iſt alſo kein Wunder, daß er, ungeachtet der
tiefen Betrachtungen die er uͤber ſeine Unterredung mit
dem Hippias bey ſich ſelbſt anſtellte, ſehr weit entfernt
war, die Gedanken zu errathen, womit dieſer Sophiſt
izt umgieng, deſſen Eitelkeit durch den ſchlechten Fort-
gang ſeines Vorhabens, und den Eigenſinn dieſes ſeltſa-
men Juͤnglings weit mehr beleidiget war, als er ſich
hatte anmerken laſſen. Agathon, wenn er das wuͤrk-
lich waͤre, was er zu ſeyn ſchien, waͤre (dachte der
weiſe Mann nicht ohne Grund) eine lebendige Wider-
legung ſeines Syſtems. Wie? ſagte er zu ſich ſelbſt,
(ein Umſtand, der ihm ſelten begegnete) ich habe mehr
als vierzig Jahre in der Welt gelebt, und unter einer
unendlichen Menge von Menſchen von allen Staͤnden
und Claſſen, nicht einen einzigen angetroffen, der meine
Begriffe von der menſchlichen Natur nicht beſtaͤttiget
haͤtte, und dieſer junge Menſch ſollte mich noch an die
Tugend glauben lehren? Es kann nicht ſeyn; er iſt
ein Phantaſt oder ein Heuchler. Was er auch ſeyn
mag, ich will es ausfuͤndig machen. ‒‒ ‒‒ Gut! Das
iſt ein vortreflicher Einfall! Jch will ihn auf eine Pro-
be ſtellen, wo er unterliegen muß, wenn er ein Schwaͤr-
mer, und wo er die Maske ablegen wird, wenn er ein
Comoͤdiant iſt. Er hat gegen Cyane ausgehalten, diß
hat ihn ſtolz und ſicher gemacht. Aber das beweißt
noch nichts. Wir wollen ihn auf eine ſtaͤrkere Probe

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[134/0156] Agathon, alle Augenblike durch unbegreifliche Zufaͤlle und unver- hofte Veraͤnderungen betrogen wird. Mit allen ſeinen Vorzuͤgen war Agathon doch in eben dieſer Claſſe, und und es iſt alſo kein Wunder, daß er, ungeachtet der tiefen Betrachtungen die er uͤber ſeine Unterredung mit dem Hippias bey ſich ſelbſt anſtellte, ſehr weit entfernt war, die Gedanken zu errathen, womit dieſer Sophiſt izt umgieng, deſſen Eitelkeit durch den ſchlechten Fort- gang ſeines Vorhabens, und den Eigenſinn dieſes ſeltſa- men Juͤnglings weit mehr beleidiget war, als er ſich hatte anmerken laſſen. Agathon, wenn er das wuͤrk- lich waͤre, was er zu ſeyn ſchien, waͤre (dachte der weiſe Mann nicht ohne Grund) eine lebendige Wider- legung ſeines Syſtems. Wie? ſagte er zu ſich ſelbſt, (ein Umſtand, der ihm ſelten begegnete) ich habe mehr als vierzig Jahre in der Welt gelebt, und unter einer unendlichen Menge von Menſchen von allen Staͤnden und Claſſen, nicht einen einzigen angetroffen, der meine Begriffe von der menſchlichen Natur nicht beſtaͤttiget haͤtte, und dieſer junge Menſch ſollte mich noch an die Tugend glauben lehren? Es kann nicht ſeyn; er iſt ein Phantaſt oder ein Heuchler. Was er auch ſeyn mag, ich will es ausfuͤndig machen. ‒‒ ‒‒ Gut! Das iſt ein vortreflicher Einfall! Jch will ihn auf eine Pro- be ſtellen, wo er unterliegen muß, wenn er ein Schwaͤr- mer, und wo er die Maske ablegen wird, wenn er ein Comoͤdiant iſt. Er hat gegen Cyane ausgehalten, diß hat ihn ſtolz und ſicher gemacht. Aber das beweißt noch nichts. Wir wollen ihn auf eine ſtaͤrkere Probe ſezen;

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/156>, abgerufen am 24.11.2024.