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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
Ursach hinzu, so seltsam sie auch in anti-platonischen
Ohren klingen mag) den ersten Plaz in seinem Herzen
eingenommen, und er hatte, seitdem sie von ihm ent-
fernt war, kein Frauenzimmer gesehen, die nicht
durch die blosse Erinnerung an Psyche alle Macht über
sein Herz und selbst über seine Sinnen verlohren hätte;
deren Bewegungen, wie man weiß, sonst nicht im-
mer mit den erstern so parallel lauffen, als gewisse Ro-
manenschreiber vorauszusezen scheinen. Die Wahrheit
zu gestehen, so war dieses nicht die Würkung derje-
nigen heroischen Treue und Standhaftigkeit in der Liebe,
welche in besagten Romanen zu einer Tugend von der
ersten Classe gemacht wird; Psyche erhielt sich im Be-
siz seines Herzens, weil ihm die Erinnerungen, die
er von ihr hatte, angenehmer waren, als die Em-
findungen, die ihm irgend eine andre Schöne einzuflös-
sen vermocht, oder weil er bißher keine andre gesehen
hatte, die so sehr nach seinem Herzen gewesen wäre.
Eine Erfahrung von etlichen Jahren beredete ihn, daß
es allezeit so seyn würde, und daher kam vielleicht die
Bestürzung, wovon er befallen wurde, als der erste
Anblik der schönen Danae ihm eine Vollkommenheit dar-
stellte, die seiner Einbildung nach allein jenseits des
Mondes anzutreffen seyn sollte. Er müste nicht Aga-
thon gewesen seyn, -wenn diese Erscheinung sich nicht
seiner ganzen Seele so sehr bemeistert hätte, wie wir ge-
sehen haben. Niemals, däuchte ihn, hatte er in einem
so hohen Grad und in einer so seltnen Harmonie alle
diese feinern Schönheiten, von denen gemeine Seelen

nicht

Agathon.
Urſach hinzu, ſo ſeltſam ſie auch in anti-platoniſchen
Ohren klingen mag) den erſten Plaz in ſeinem Herzen
eingenommen, und er hatte, ſeitdem ſie von ihm ent-
fernt war, kein Frauenzimmer geſehen, die nicht
durch die bloſſe Erinnerung an Pſyche alle Macht uͤber
ſein Herz und ſelbſt uͤber ſeine Sinnen verlohren haͤtte;
deren Bewegungen, wie man weiß, ſonſt nicht im-
mer mit den erſtern ſo parallel lauffen, als gewiſſe Ro-
manenſchreiber vorauszuſezen ſcheinen. Die Wahrheit
zu geſtehen, ſo war dieſes nicht die Wuͤrkung derje-
nigen heroiſchen Treue und Standhaftigkeit in der Liebe,
welche in beſagten Romanen zu einer Tugend von der
erſten Claſſe gemacht wird; Pſyche erhielt ſich im Be-
ſiz ſeines Herzens, weil ihm die Erinnerungen, die
er von ihr hatte, angenehmer waren, als die Em-
findungen, die ihm irgend eine andre Schoͤne einzufloͤſ-
ſen vermocht, oder weil er bißher keine andre geſehen
hatte, die ſo ſehr nach ſeinem Herzen geweſen waͤre.
Eine Erfahrung von etlichen Jahren beredete ihn, daß
es allezeit ſo ſeyn wuͤrde, und daher kam vielleicht die
Beſtuͤrzung, wovon er befallen wurde, als der erſte
Anblik der ſchoͤnen Danae ihm eine Vollkommenheit dar-
ſtellte, die ſeiner Einbildung nach allein jenſeits des
Mondes anzutreffen ſeyn ſollte. Er muͤſte nicht Aga-
thon geweſen ſeyn, -wenn dieſe Erſcheinung ſich nicht
ſeiner ganzen Seele ſo ſehr bemeiſtert haͤtte, wie wir ge-
ſehen haben. Niemals, daͤuchte ihn, hatte er in einem
ſo hohen Grad und in einer ſo ſeltnen Harmonie alle
dieſe feinern Schoͤnheiten, von denen gemeine Seelen

nicht
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[162/0184] Agathon. Urſach hinzu, ſo ſeltſam ſie auch in anti-platoniſchen Ohren klingen mag) den erſten Plaz in ſeinem Herzen eingenommen, und er hatte, ſeitdem ſie von ihm ent- fernt war, kein Frauenzimmer geſehen, die nicht durch die bloſſe Erinnerung an Pſyche alle Macht uͤber ſein Herz und ſelbſt uͤber ſeine Sinnen verlohren haͤtte; deren Bewegungen, wie man weiß, ſonſt nicht im- mer mit den erſtern ſo parallel lauffen, als gewiſſe Ro- manenſchreiber vorauszuſezen ſcheinen. Die Wahrheit zu geſtehen, ſo war dieſes nicht die Wuͤrkung derje- nigen heroiſchen Treue und Standhaftigkeit in der Liebe, welche in beſagten Romanen zu einer Tugend von der erſten Claſſe gemacht wird; Pſyche erhielt ſich im Be- ſiz ſeines Herzens, weil ihm die Erinnerungen, die er von ihr hatte, angenehmer waren, als die Em- findungen, die ihm irgend eine andre Schoͤne einzufloͤſ- ſen vermocht, oder weil er bißher keine andre geſehen hatte, die ſo ſehr nach ſeinem Herzen geweſen waͤre. Eine Erfahrung von etlichen Jahren beredete ihn, daß es allezeit ſo ſeyn wuͤrde, und daher kam vielleicht die Beſtuͤrzung, wovon er befallen wurde, als der erſte Anblik der ſchoͤnen Danae ihm eine Vollkommenheit dar- ſtellte, die ſeiner Einbildung nach allein jenſeits des Mondes anzutreffen ſeyn ſollte. Er muͤſte nicht Aga- thon geweſen ſeyn, -wenn dieſe Erſcheinung ſich nicht ſeiner ganzen Seele ſo ſehr bemeiſtert haͤtte, wie wir ge- ſehen haben. Niemals, daͤuchte ihn, hatte er in einem ſo hohen Grad und in einer ſo ſeltnen Harmonie alle dieſe feinern Schoͤnheiten, von denen gemeine Seelen nicht

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/184>, abgerufen am 24.11.2024.