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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Viertes Buch, sechstes Capitel.
Geistes sich so schnell und so glüklich zu bemächtigen
gewußt hatte. Einen schlimmern Streich konnte sie
in der That der einen und der andern Psyche nicht spielen.
Beyde wurden von ihrem blendenden Glanze, wie be-
nachbarte Sterne von dem vollen Mond, ausgelöscht.
Und wie hätte ihn auch das Bild seiner abwesenden Ge-
liebten noch länger beschäftigen können, da alle An-
schauungskräfte seiner Seele, auf diesen einzigen bezau-
bernden Gegenstand geheftet, ihm kaum zureichend schie-
nen, dessen ganze Vollkommenheit zu empfinden; da
er diese sittliche Venus mit allen ihren geistigen Gra-
zien würklich vor sich sah, zu deren blossen Schatten-
bild ihn Psyche zu erheben vermocht hatte?

Wir wissen nicht, ob man eben ein Hippias seyn
müste, um zu glauben, daß gewisse Schönheiten von
einer nicht so unkörperlichen, wiewohl in ihrer Art eben
so vollkommenen Natur, weit mehr als Agathon selbst
gewahr wurde, zu dieser Verzükung in die idealischen
Welten beygetragen haben könnten, worinn er wäh-
rend dem pantomimischen Tanz der Danae sich befand.
Die Nymphen-mäßige Kleidung, welche dieser Tanz
erforderte, war nur allzugeschikt diese Reizungen in
ihrer ganzen Macht und in dem mannigfaltigsten Lichte
zu entwikeln; und wir müssen gestehen, die Göttin der
Liebe selbst hätte sich nicht zuversichtlicher als die unta-
denliche Danae dem Auge der schärfsten Kenner, ja
selbst den Augen einer Nebenbuhlerin, in diesem Auf-
zug überlassen dürfen. Der Charakter der ungeschmink-

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Viertes Buch, ſechstes Capitel.
Geiſtes ſich ſo ſchnell und ſo gluͤklich zu bemaͤchtigen
gewußt hatte. Einen ſchlimmern Streich konnte ſie
in der That der einen und der andern Pſyche nicht ſpielen.
Beyde wurden von ihrem blendenden Glanze, wie be-
nachbarte Sterne von dem vollen Mond, ausgeloͤſcht.
Und wie haͤtte ihn auch das Bild ſeiner abweſenden Ge-
liebten noch laͤnger beſchaͤftigen koͤnnen, da alle An-
ſchauungskraͤfte ſeiner Seele, auf dieſen einzigen bezau-
bernden Gegenſtand geheftet, ihm kaum zureichend ſchie-
nen, deſſen ganze Vollkommenheit zu empfinden; da
er dieſe ſittliche Venus mit allen ihren geiſtigen Gra-
zien wuͤrklich vor ſich ſah, zu deren bloſſen Schatten-
bild ihn Pſyche zu erheben vermocht hatte?

Wir wiſſen nicht, ob man eben ein Hippias ſeyn
muͤſte, um zu glauben, daß gewiſſe Schoͤnheiten von
einer nicht ſo unkoͤrperlichen, wiewohl in ihrer Art eben
ſo vollkommenen Natur, weit mehr als Agathon ſelbſt
gewahr wurde, zu dieſer Verzuͤkung in die idealiſchen
Welten beygetragen haben koͤnnten, worinn er waͤh-
rend dem pantomimiſchen Tanz der Danae ſich befand.
Die Nymphen-maͤßige Kleidung, welche dieſer Tanz
erforderte, war nur allzugeſchikt dieſe Reizungen in
ihrer ganzen Macht und in dem mannigfaltigſten Lichte
zu entwikeln; und wir muͤſſen geſtehen, die Goͤttin der
Liebe ſelbſt haͤtte ſich nicht zuverſichtlicher als die unta-
denliche Danae dem Auge der ſchaͤrfſten Kenner, ja
ſelbſt den Augen einer Nebenbuhlerin, in dieſem Auf-
zug uͤberlaſſen duͤrfen. Der Charakter der ungeſchmink-

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[165/0187] Viertes Buch, ſechstes Capitel. Geiſtes ſich ſo ſchnell und ſo gluͤklich zu bemaͤchtigen gewußt hatte. Einen ſchlimmern Streich konnte ſie in der That der einen und der andern Pſyche nicht ſpielen. Beyde wurden von ihrem blendenden Glanze, wie be- nachbarte Sterne von dem vollen Mond, ausgeloͤſcht. Und wie haͤtte ihn auch das Bild ſeiner abweſenden Ge- liebten noch laͤnger beſchaͤftigen koͤnnen, da alle An- ſchauungskraͤfte ſeiner Seele, auf dieſen einzigen bezau- bernden Gegenſtand geheftet, ihm kaum zureichend ſchie- nen, deſſen ganze Vollkommenheit zu empfinden; da er dieſe ſittliche Venus mit allen ihren geiſtigen Gra- zien wuͤrklich vor ſich ſah, zu deren bloſſen Schatten- bild ihn Pſyche zu erheben vermocht hatte? Wir wiſſen nicht, ob man eben ein Hippias ſeyn muͤſte, um zu glauben, daß gewiſſe Schoͤnheiten von einer nicht ſo unkoͤrperlichen, wiewohl in ihrer Art eben ſo vollkommenen Natur, weit mehr als Agathon ſelbſt gewahr wurde, zu dieſer Verzuͤkung in die idealiſchen Welten beygetragen haben koͤnnten, worinn er waͤh- rend dem pantomimiſchen Tanz der Danae ſich befand. Die Nymphen-maͤßige Kleidung, welche dieſer Tanz erforderte, war nur allzugeſchikt dieſe Reizungen in ihrer ganzen Macht und in dem mannigfaltigſten Lichte zu entwikeln; und wir muͤſſen geſtehen, die Goͤttin der Liebe ſelbſt haͤtte ſich nicht zuverſichtlicher als die unta- denliche Danae dem Auge der ſchaͤrfſten Kenner, ja ſelbſt den Augen einer Nebenbuhlerin, in dieſem Auf- zug uͤberlaſſen duͤrfen. Der Charakter der ungeſchmink- ten L 3

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/187>, abgerufen am 24.11.2024.