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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Fünftes Buch, zweytes Capitel.
zweifeln werden, ob wir uns selbst verstehen; allein
wir lassen uns dieses gar nicht aufechten. Sancho,
wenn er (wie es ihm zuweilen begegnete) eine Menge
schöner Sachen vorgebracht hatte, wovon weder sein
Herr noch irgend ein andrer, oder auch er selbst etwas
verstehen konnte, pflegte sich damit zu trösten, daß er
sagte: Gott versteht mich; und der Geschichtschreiber
des Agathons kan es ganz wohl leiden, daß diese und
ähnliche Stellen seines Werkes von allen andern Lesern
für Galimathias gehalten werden, da er versichert ist,
daß *** ihn versteht -- Agathon könnte also von
dieser gedoppelten Art von Liebe, wovon eine die An-
tipode der andern ist, aus Erfahrung sprechen; allein
diejenige, worinn jene beyden sich in einander mischen,
die Liebe, welche die Sinnen, den Geist und das
Herz zugleich bezaubert, die heftigste, die reizendste
und gefährlichste aller Leidenschaften, war ihm mit
allen ihren Symptomen und Würkungen noch unbekannt;
und es ist also kein Wunder, daß sie sich schon seines
ganzen Wesens bemeistert hatte, eh es ihm nur einge-
fallen war, ihr zu widerstehen. Es ist wahr, dasje-
nige was in seinem Gemüthe vorgieng, nachdem er in
zween oder drey Tagen die schöne Danae weder gesehen,
noch etwas von ihr gehört hatte, hätte den Zustand sei-
nes Herzens einem unbefangnen Zuschauer verdächtig
gemacht; aber er selbst war weit entfernt das geringste
Mißtrauen in die Unschuld seiner Gesinnungen zu sezen.
Was ist natürlicher, als das Verlangen, das voll-
kommenste und liebenswürdigste unter allen Wesen,

nachdem

Fuͤnftes Buch, zweytes Capitel.
zweifeln werden, ob wir uns ſelbſt verſtehen; allein
wir laſſen uns dieſes gar nicht aufechten. Sancho,
wenn er (wie es ihm zuweilen begegnete) eine Menge
ſchoͤner Sachen vorgebracht hatte, wovon weder ſein
Herr noch irgend ein andrer, oder auch er ſelbſt etwas
verſtehen konnte, pflegte ſich damit zu troͤſten, daß er
ſagte: Gott verſteht mich; und der Geſchichtſchreiber
des Agathons kan es ganz wohl leiden, daß dieſe und
aͤhnliche Stellen ſeines Werkes von allen andern Leſern
fuͤr Galimathias gehalten werden, da er verſichert iſt,
daß *** ihn verſteht — Agathon koͤnnte alſo von
dieſer gedoppelten Art von Liebe, wovon eine die An-
tipode der andern iſt, aus Erfahrung ſprechen; allein
diejenige, worinn jene beyden ſich in einander miſchen,
die Liebe, welche die Sinnen, den Geiſt und das
Herz zugleich bezaubert, die heftigſte, die reizendſte
und gefaͤhrlichſte aller Leidenſchaften, war ihm mit
allen ihren Symptomen und Wuͤrkungen noch unbekannt;
und es iſt alſo kein Wunder, daß ſie ſich ſchon ſeines
ganzen Weſens bemeiſtert hatte, eh es ihm nur einge-
fallen war, ihr zu widerſtehen. Es iſt wahr, dasje-
nige was in ſeinem Gemuͤthe vorgieng, nachdem er in
zween oder drey Tagen die ſchoͤne Danae weder geſehen,
noch etwas von ihr gehoͤrt hatte, haͤtte den Zuſtand ſei-
nes Herzens einem unbefangnen Zuſchauer verdaͤchtig
gemacht; aber er ſelbſt war weit entfernt das geringſte
Mißtrauen in die Unſchuld ſeiner Geſinnungen zu ſezen.
Was iſt natuͤrlicher, als das Verlangen, das voll-
kommenſte und liebenswuͤrdigſte unter allen Weſen,

nachdem
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[171/0193] Fuͤnftes Buch, zweytes Capitel. zweifeln werden, ob wir uns ſelbſt verſtehen; allein wir laſſen uns dieſes gar nicht aufechten. Sancho, wenn er (wie es ihm zuweilen begegnete) eine Menge ſchoͤner Sachen vorgebracht hatte, wovon weder ſein Herr noch irgend ein andrer, oder auch er ſelbſt etwas verſtehen konnte, pflegte ſich damit zu troͤſten, daß er ſagte: Gott verſteht mich; und der Geſchichtſchreiber des Agathons kan es ganz wohl leiden, daß dieſe und aͤhnliche Stellen ſeines Werkes von allen andern Leſern fuͤr Galimathias gehalten werden, da er verſichert iſt, daß *** ihn verſteht — Agathon koͤnnte alſo von dieſer gedoppelten Art von Liebe, wovon eine die An- tipode der andern iſt, aus Erfahrung ſprechen; allein diejenige, worinn jene beyden ſich in einander miſchen, die Liebe, welche die Sinnen, den Geiſt und das Herz zugleich bezaubert, die heftigſte, die reizendſte und gefaͤhrlichſte aller Leidenſchaften, war ihm mit allen ihren Symptomen und Wuͤrkungen noch unbekannt; und es iſt alſo kein Wunder, daß ſie ſich ſchon ſeines ganzen Weſens bemeiſtert hatte, eh es ihm nur einge- fallen war, ihr zu widerſtehen. Es iſt wahr, dasje- nige was in ſeinem Gemuͤthe vorgieng, nachdem er in zween oder drey Tagen die ſchoͤne Danae weder geſehen, noch etwas von ihr gehoͤrt hatte, haͤtte den Zuſtand ſei- nes Herzens einem unbefangnen Zuſchauer verdaͤchtig gemacht; aber er ſelbſt war weit entfernt das geringſte Mißtrauen in die Unſchuld ſeiner Geſinnungen zu ſezen. Was iſt natuͤrlicher, als das Verlangen, das voll- kommenſte und liebenswuͤrdigſte unter allen Weſen, nachdem

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/193>, abgerufen am 24.11.2024.