der schlechteste unter seinen Lesern sich ohngefehr selbst zu schäzen pflegt.
Vielleicht ist kein unfehlbarers Mittel mit dem we- nigsten Aufwand von Genie, Wissenschaft und Erfahren- heit ein gepriesener Schriftsteller zu werden, als wenn man sich damit abgiebt, Menschen (denn Menschen sollen es doch seyn) ohne Leidenschaften, ohne Schwach- heit, ohne allen Mangel und Gebrechen, durch etliche Bände voll wunderreicher Abentheure, in der einförmig- sten Gleichheit mit sich selbst, herumzuführen. Eh ihr es euch verseht, ist ein Buch fertig, das durch den er- baulichen Ton eiuer strengen Sittenlehre, durch blen- dende Sentenzen, durch Charaktere und Handlungen, die eben so viele Muster sind, den Beyfall aller der gutherzigen Leute überraschet, welche jedes Buch, das die Tugend an[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]reif[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt], vortreflich finden. Und was für einen Beyfall kan sich ein solches Werk erst alsdenn verspre- chen, wenn der Verfasser die Kunst oder die natürliche Gabe besizt, seine Schreibart auf den Ton der Begei- sterung zu stimmen, und, verliebt in die schönen Geschöpfe seiner erhizten Einbildungskraft, die Meynung von sich zu erweken, daß ers in die Tugend selber sey. Umsonst mag dann ein verdächtiger Kunstrichter sich heiser schreyen, daß ein solches Werk eben so wenig für die Talente seines Urhebers beweise, als es der Welt Nu- zen schaffe; umsonst mag er vorstellen, wie leicht es sey, die Definitionen eines Auszugs der Sittenlehre in Per- sonen, und die Maximen des Epictets in Handlungen
zu
N 3
Fuͤnftes Buch, achtes Capitel.
der ſchlechteſte unter ſeinen Leſern ſich ohngefehr ſelbſt zu ſchaͤzen pflegt.
Vielleicht iſt kein unfehlbarers Mittel mit dem we- nigſten Aufwand von Genie, Wiſſenſchaft und Erfahren- heit ein geprieſener Schriftſteller zu werden, als wenn man ſich damit abgiebt, Menſchen (denn Menſchen ſollen es doch ſeyn) ohne Leidenſchaften, ohne Schwach- heit, ohne allen Mangel und Gebrechen, durch etliche Baͤnde voll wunderreicher Abentheure, in der einfoͤrmig- ſten Gleichheit mit ſich ſelbſt, herumzufuͤhren. Eh ihr es euch verſeht, iſt ein Buch fertig, das durch den er- baulichen Ton eiuer ſtrengen Sittenlehre, durch blen- dende Sentenzen, durch Charaktere und Handlungen, die eben ſo viele Muſter ſind, den Beyfall aller der gutherzigen Leute uͤberraſchet, welche jedes Buch, das die Tugend an[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]reif[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt], vortreflich finden. Und was fuͤr einen Beyfall kan ſich ein ſolches Werk erſt alsdenn verſpre- chen, wenn der Verfaſſer die Kunſt oder die natuͤrliche Gabe beſizt, ſeine Schreibart auf den Ton der Begei- ſterung zu ſtimmen, und, verliebt in die ſchoͤnen Geſchoͤpfe ſeiner erhizten Einbildungskraft, die Meynung von ſich zu erweken, daß ers in die Tugend ſelber ſey. Umſonſt mag dann ein verdaͤchtiger Kunſtrichter ſich heiſer ſchreyen, daß ein ſolches Werk eben ſo wenig fuͤr die Talente ſeines Urhebers beweiſe, als es der Welt Nu- zen ſchaffe; umſonſt mag er vorſtellen, wie leicht es ſey, die Definitionen eines Auszugs der Sittenlehre in Per- ſonen, und die Maximen des Epictets in Handlungen
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Fuͤnftes Buch, achtes Capitel.
der ſchlechteſte unter ſeinen Leſern ſich ohngefehr ſelbſt
zu ſchaͤzen pflegt.
Vielleicht iſt kein unfehlbarers Mittel mit dem we-
nigſten Aufwand von Genie, Wiſſenſchaft und Erfahren-
heit ein geprieſener Schriftſteller zu werden, als wenn
man ſich damit abgiebt, Menſchen (denn Menſchen
ſollen es doch ſeyn) ohne Leidenſchaften, ohne Schwach-
heit, ohne allen Mangel und Gebrechen, durch etliche
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baulichen Ton eiuer ſtrengen Sittenlehre, durch blen-
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ſterung zu ſtimmen, und, verliebt in die ſchoͤnen Geſchoͤpfe
ſeiner erhizten Einbildungskraft, die Meynung von ſich
zu erweken, daß ers in die Tugend ſelber ſey. Umſonſt
mag dann ein verdaͤchtiger Kunſtrichter ſich heiſer
ſchreyen, daß ein ſolches Werk eben ſo wenig fuͤr die
Talente ſeines Urhebers beweiſe, als es der Welt Nu-
zen ſchaffe; umſonſt mag er vorſtellen, wie leicht es ſey,
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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/219>, abgerufen am 21.11.2024.
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