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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
seits des Rheins aufgebracht hat) beynahe von lauter
Liebhabern, welche nichts angelegners haben, als in
der Welt herumzuziehen, um die Nahmen ihrer Gelieb-
ten in die Bäume zu schneiden, ohne daß die reizen-
desten Versuchungen, denen sie von Zeit zu Zeit aus-
gesezt sind, vermögend wären, ihre Treue nur einen
Augenblik zu erschüttern. Man müste wohl sehr ein-
genommen seyn, wenn man nicht sehen sollte, war-
um diese vermeynten Heldentugenden in eine so grosse
Hochachtung gekommen sind. Von je her haben die
Schönen sich berechtiget gehalten, eine Liebe, welche
ihnen alles aufopfert, und eine Beständlgkeit, die ge-
gen alle andre Reizungen unempfindlich ist, zu erwar-
ten. Sie gleichen in diesem Stüke den grossen Herren,
welche verlangen, daß unserm Eifer nichts unmöglich
seyn solle, und die sich sehr wenig darum bekümmern,
ob uns dasjenige, was sie von uns fordern, gelegen,
oder ob es überhaupt recht und billig sey, oder nicht.
Eben so ist es für unsre Beherrscherinnen schon ge-
nug, daß der Vortheil ihrer Eitelkeit und ihrer übri-
gen Leidenschaften sich bey diesen vorgeblichen Tugen-
den am besten besindet, um einen Artabanus oder einen
Grafen von Comminges zu einem grössern Mann in
ihren Augen zu machen, als alle Helden des Plutarchs
zusammengenommen. Und ist die unedle Eigennüzig-
keit oder der feige Kleinmuth, womit wir (zumal bey
jenen Völkern, wo der Tod aus sittlichen Ursachen
mehr als natürlich ist, gefürchtet wird) den größesten
Theil der bürgerlichen Gesellschaft angestekt sehen,

viel-

Agathon.
ſeits des Rheins aufgebracht hat) beynahe von lauter
Liebhabern, welche nichts angelegners haben, als in
der Welt herumzuziehen, um die Nahmen ihrer Gelieb-
ten in die Baͤume zu ſchneiden, ohne daß die reizen-
deſten Verſuchungen, denen ſie von Zeit zu Zeit aus-
geſezt ſind, vermoͤgend waͤren, ihre Treue nur einen
Augenblik zu erſchuͤttern. Man muͤſte wohl ſehr ein-
genommen ſeyn, wenn man nicht ſehen ſollte, war-
um dieſe vermeynten Heldentugenden in eine ſo groſſe
Hochachtung gekommen ſind. Von je her haben die
Schoͤnen ſich berechtiget gehalten, eine Liebe, welche
ihnen alles aufopfert, und eine Beſtaͤndlgkeit, die ge-
gen alle andre Reizungen unempfindlich iſt, zu erwar-
ten. Sie gleichen in dieſem Stuͤke den groſſen Herren,
welche verlangen, daß unſerm Eifer nichts unmoͤglich
ſeyn ſolle, und die ſich ſehr wenig darum bekuͤmmern,
ob uns dasjenige, was ſie von uns fordern, gelegen,
oder ob es uͤberhaupt recht und billig ſey, oder nicht.
Eben ſo iſt es fuͤr unſre Beherrſcherinnen ſchon ge-
nug, daß der Vortheil ihrer Eitelkeit und ihrer uͤbri-
gen Leidenſchaften ſich bey dieſen vorgeblichen Tugen-
den am beſten beſindet, um einen Artabanus oder einen
Grafen von Comminges zu einem groͤſſern Mann in
ihren Augen zu machen, als alle Helden des Plutarchs
zuſammengenommen. Und iſt die unedle Eigennuͤzig-
keit oder der feige Kleinmuth, womit wir (zumal bey
jenen Voͤlkern, wo der Tod aus ſittlichen Urſachen
mehr als natuͤrlich iſt, gefuͤrchtet wird) den groͤßeſten
Theil der buͤrgerlichen Geſellſchaft angeſtekt ſehen,

viel-
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[200/0222] Agathon. ſeits des Rheins aufgebracht hat) beynahe von lauter Liebhabern, welche nichts angelegners haben, als in der Welt herumzuziehen, um die Nahmen ihrer Gelieb- ten in die Baͤume zu ſchneiden, ohne daß die reizen- deſten Verſuchungen, denen ſie von Zeit zu Zeit aus- geſezt ſind, vermoͤgend waͤren, ihre Treue nur einen Augenblik zu erſchuͤttern. Man muͤſte wohl ſehr ein- genommen ſeyn, wenn man nicht ſehen ſollte, war- um dieſe vermeynten Heldentugenden in eine ſo groſſe Hochachtung gekommen ſind. Von je her haben die Schoͤnen ſich berechtiget gehalten, eine Liebe, welche ihnen alles aufopfert, und eine Beſtaͤndlgkeit, die ge- gen alle andre Reizungen unempfindlich iſt, zu erwar- ten. Sie gleichen in dieſem Stuͤke den groſſen Herren, welche verlangen, daß unſerm Eifer nichts unmoͤglich ſeyn ſolle, und die ſich ſehr wenig darum bekuͤmmern, ob uns dasjenige, was ſie von uns fordern, gelegen, oder ob es uͤberhaupt recht und billig ſey, oder nicht. Eben ſo iſt es fuͤr unſre Beherrſcherinnen ſchon ge- nug, daß der Vortheil ihrer Eitelkeit und ihrer uͤbri- gen Leidenſchaften ſich bey dieſen vorgeblichen Tugen- den am beſten beſindet, um einen Artabanus oder einen Grafen von Comminges zu einem groͤſſern Mann in ihren Augen zu machen, als alle Helden des Plutarchs zuſammengenommen. Und iſt die unedle Eigennuͤzig- keit oder der feige Kleinmuth, womit wir (zumal bey jenen Voͤlkern, wo der Tod aus ſittlichen Urſachen mehr als natuͤrlich iſt, gefuͤrchtet wird) den groͤßeſten Theil der buͤrgerlichen Geſellſchaft angeſtekt ſehen, viel-

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/222>, abgerufen am 24.11.2024.