Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Fünftes Buch, neuntes Capitel.
erfüllte sein Herz mit einer so reinen, vollkommnen,
unbeschreiblichen Befriedigung, daß er alle Wünsche,
alle Ahnungen einer noch grössern Glükseligkeit darüber
vergessen zu haben schien. Vermuthlich (denn gewiß
können wir hierüber nichts entscheiden) würde die Schön-
heit des Gegenstands allein, so ausserordentlich sie war,
diese sonderbare Würkung nicht gethan haben; allein
dieser Gegenstand war seine Geliebte, und dieser Um-
stand verstärkte die Bewundrung, womit auch die Kalt-
sinnigsten die Schönheit ansehen müssen, mit einer Em-
pfindung, welche noch kein Dichter zu beschreiben fä-
hig gewesen ist, so sehr sich auch vermuthen läßt, daß
sie den mehresten aus Erfahrung bekannt gewesen
seyn könne. Diese nahmenlose Empfiudung ist es al-
lein, was den wahren Liebhaber von einem Satyren un-
terscheidet, und was eine Art von sittlichen Grazien
sogar über dasjenige ausbreitet, was bey diesem nur
das Werk des Justinkts, oder eines animalischen Hun-
gers ist. Welcher Satyr würde in solchen Augenbli-
ken fähig gewesen seyn, wie Agathon zu handeln? --
Behutsam und mit der leichten Hand eines Sylphen
zog er das seidene Gewand, welches Amor verräthe-
risch aufgedekt hatte, wieder über die schöne Schla-
fende her, warf sich wieder zu den Füssen ihres Ruhe-
bettes, und begnügte sich, ihre nachläßig ausgestrekte
Hand, aber mit einer Zärtlichkeit, mit einer Entzü-
kung und Sehnsucht an seinen Mund zu drüken, daß
eine Bildsäule davon hätte erwekt werden mögen. Sie
muste also endlich erwachen. Und wie hätte sie auch

sich

Fuͤnftes Buch, neuntes Capitel.
erfuͤllte ſein Herz mit einer ſo reinen, vollkommnen,
unbeſchreiblichen Befriedigung, daß er alle Wuͤnſche,
alle Ahnungen einer noch groͤſſern Gluͤkſeligkeit daruͤber
vergeſſen zu haben ſchien. Vermuthlich (denn gewiß
koͤnnen wir hieruͤber nichts entſcheiden) wuͤrde die Schoͤn-
heit des Gegenſtands allein, ſo auſſerordentlich ſie war,
dieſe ſonderbare Wuͤrkung nicht gethan haben; allein
dieſer Gegenſtand war ſeine Geliebte, und dieſer Um-
ſtand verſtaͤrkte die Bewundrung, womit auch die Kalt-
ſinnigſten die Schoͤnheit anſehen muͤſſen, mit einer Em-
pfindung, welche noch kein Dichter zu beſchreiben faͤ-
hig geweſen iſt, ſo ſehr ſich auch vermuthen laͤßt, daß
ſie den mehreſten aus Erfahrung bekannt geweſen
ſeyn koͤnne. Dieſe nahmenloſe Empfiudung iſt es al-
lein, was den wahren Liebhaber von einem Satyren un-
terſcheidet, und was eine Art von ſittlichen Grazien
ſogar uͤber dasjenige ausbreitet, was bey dieſem nur
das Werk des Juſtinkts, oder eines animaliſchen Hun-
gers iſt. Welcher Satyr wuͤrde in ſolchen Augenbli-
ken faͤhig geweſen ſeyn, wie Agathon zu handeln? —
Behutſam und mit der leichten Hand eines Sylphen
zog er das ſeidene Gewand, welches Amor verraͤthe-
riſch aufgedekt hatte, wieder uͤber die ſchoͤne Schla-
fende her, warf ſich wieder zu den Fuͤſſen ihres Ruhe-
bettes, und begnuͤgte ſich, ihre nachlaͤßig ausgeſtrekte
Hand, aber mit einer Zaͤrtlichkeit, mit einer Entzuͤ-
kung und Sehnſucht an ſeinen Mund zu druͤken, daß
eine Bildſaͤule davon haͤtte erwekt werden moͤgen. Sie
muſte alſo endlich erwachen. Und wie haͤtte ſie auch

ſich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0229" n="207"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Fu&#x0364;nftes Buch, neuntes Capitel.</hi></fw><lb/>
erfu&#x0364;llte &#x017F;ein Herz mit einer &#x017F;o reinen, vollkommnen,<lb/>
unbe&#x017F;chreiblichen Befriedigung, daß er alle Wu&#x0364;n&#x017F;che,<lb/>
alle Ahnungen einer noch gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;ern Glu&#x0364;k&#x017F;eligkeit daru&#x0364;ber<lb/>
verge&#x017F;&#x017F;en zu haben &#x017F;chien. Vermuthlich (denn gewiß<lb/>
ko&#x0364;nnen wir hieru&#x0364;ber nichts ent&#x017F;cheiden) wu&#x0364;rde die Scho&#x0364;n-<lb/>
heit des Gegen&#x017F;tands allein, &#x017F;o au&#x017F;&#x017F;erordentlich &#x017F;ie war,<lb/>
die&#x017F;e &#x017F;onderbare Wu&#x0364;rkung nicht gethan haben; allein<lb/>
die&#x017F;er Gegen&#x017F;tand war &#x017F;eine Geliebte, und die&#x017F;er Um-<lb/>
&#x017F;tand ver&#x017F;ta&#x0364;rkte die Bewundrung, womit auch die Kalt-<lb/>
&#x017F;innig&#x017F;ten die Scho&#x0364;nheit an&#x017F;ehen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, mit einer Em-<lb/>
pfindung, welche noch kein Dichter zu be&#x017F;chreiben fa&#x0364;-<lb/>
hig gewe&#x017F;en i&#x017F;t, &#x017F;o &#x017F;ehr &#x017F;ich auch vermuthen la&#x0364;ßt, daß<lb/>
&#x017F;ie den mehre&#x017F;ten aus Erfahrung bekannt gewe&#x017F;en<lb/>
&#x017F;eyn ko&#x0364;nne. Die&#x017F;e nahmenlo&#x017F;e Empfiudung i&#x017F;t es al-<lb/>
lein, was den wahren Liebhaber von einem Satyren un-<lb/>
ter&#x017F;cheidet, und was eine Art von &#x017F;ittlichen Grazien<lb/>
&#x017F;ogar u&#x0364;ber dasjenige ausbreitet, was bey die&#x017F;em nur<lb/>
das Werk des Ju&#x017F;tinkts, oder eines animali&#x017F;chen Hun-<lb/>
gers i&#x017F;t. Welcher Satyr wu&#x0364;rde in &#x017F;olchen Augenbli-<lb/>
ken fa&#x0364;hig gewe&#x017F;en &#x017F;eyn, wie Agathon zu handeln? &#x2014;<lb/>
Behut&#x017F;am und mit der leichten Hand eines Sylphen<lb/>
zog er das &#x017F;eidene Gewand, welches Amor verra&#x0364;the-<lb/>
ri&#x017F;ch aufgedekt hatte, wieder u&#x0364;ber die &#x017F;cho&#x0364;ne Schla-<lb/>
fende her, warf &#x017F;ich wieder zu den Fu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en ihres Ruhe-<lb/>
bettes, und begnu&#x0364;gte &#x017F;ich, ihre nachla&#x0364;ßig ausge&#x017F;trekte<lb/>
Hand, aber mit einer Za&#x0364;rtlichkeit, mit einer Entzu&#x0364;-<lb/>
kung und Sehn&#x017F;ucht an &#x017F;einen Mund zu dru&#x0364;ken, daß<lb/>
eine Bild&#x017F;a&#x0364;ule davon ha&#x0364;tte erwekt werden mo&#x0364;gen. Sie<lb/>
mu&#x017F;te al&#x017F;o endlich erwachen. Und wie ha&#x0364;tte &#x017F;ie auch<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ich</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[207/0229] Fuͤnftes Buch, neuntes Capitel. erfuͤllte ſein Herz mit einer ſo reinen, vollkommnen, unbeſchreiblichen Befriedigung, daß er alle Wuͤnſche, alle Ahnungen einer noch groͤſſern Gluͤkſeligkeit daruͤber vergeſſen zu haben ſchien. Vermuthlich (denn gewiß koͤnnen wir hieruͤber nichts entſcheiden) wuͤrde die Schoͤn- heit des Gegenſtands allein, ſo auſſerordentlich ſie war, dieſe ſonderbare Wuͤrkung nicht gethan haben; allein dieſer Gegenſtand war ſeine Geliebte, und dieſer Um- ſtand verſtaͤrkte die Bewundrung, womit auch die Kalt- ſinnigſten die Schoͤnheit anſehen muͤſſen, mit einer Em- pfindung, welche noch kein Dichter zu beſchreiben faͤ- hig geweſen iſt, ſo ſehr ſich auch vermuthen laͤßt, daß ſie den mehreſten aus Erfahrung bekannt geweſen ſeyn koͤnne. Dieſe nahmenloſe Empfiudung iſt es al- lein, was den wahren Liebhaber von einem Satyren un- terſcheidet, und was eine Art von ſittlichen Grazien ſogar uͤber dasjenige ausbreitet, was bey dieſem nur das Werk des Juſtinkts, oder eines animaliſchen Hun- gers iſt. Welcher Satyr wuͤrde in ſolchen Augenbli- ken faͤhig geweſen ſeyn, wie Agathon zu handeln? — Behutſam und mit der leichten Hand eines Sylphen zog er das ſeidene Gewand, welches Amor verraͤthe- riſch aufgedekt hatte, wieder uͤber die ſchoͤne Schla- fende her, warf ſich wieder zu den Fuͤſſen ihres Ruhe- bettes, und begnuͤgte ſich, ihre nachlaͤßig ausgeſtrekte Hand, aber mit einer Zaͤrtlichkeit, mit einer Entzuͤ- kung und Sehnſucht an ſeinen Mund zu druͤken, daß eine Bildſaͤule davon haͤtte erwekt werden moͤgen. Sie muſte alſo endlich erwachen. Und wie haͤtte ſie auch ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/229
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/229>, abgerufen am 24.11.2024.