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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Fünftes Buch, zehentes Capitel.
war, an sich selbst betrachtet die vollkommensie Art von
Vergnügungen in sich schliesse, deren unsre Sinnen fä-
hig sind; eine Wahrheit, welche, ungeachtet einer Art
von stillschweigender Uebereinkunft, daß man sie nicht
laut gestehen wolle, von allen Völkern und zu allen
Zeiten so allgemein anerkannt worden ist, daß Car-
neades, Sextus, Cornelius Agrippa, und Bayle selbst
sich nicht getrauet haben, sie in Zweifel zu ziehen. Ob
wir nun gleich nicht Muth genug besizen, gegen einen
so ehrwürdigen Beweis als das einhellige Gefühl des
ganzen menschlichen Geschlechts abgiebt, öffentlich zu
behaupten, daß diejenigen Vergnügungen der Liebe,
welche der Seele eigen sind, den Vorzug vor jenen ha-
ben: So werden doch nicht wenige mit uns einstimmig
seyn, daß ein Liebhaber, der selbst eine Seele hat, im
Besiz der schönsten Statur von Fleisch und Blut, die
man nur immer finden kan, selbst jene von den neuern
Epicuräern so hoch gepriesene Wollust nur in einem sehr
unvollkommnen Grade erfahren würde; und daß diese
allein von der Empfindung des Herzens jenen wunder-
baren Reiz erhalte, welcher immer für unaussprech-
lich gehalten worden ist, biß Rousseau, der Stoiker,
sich herabgelassen, sie in dem fünf und vierzigsten der
Briefe der neuen Heloise, in einer Vollkommenheit zu
schildern, welche sehr deutlich beweißt, was für eine
begeisternde Kraft die blosse halberloschene Erinnerung
an die Erfahrungen seiner glüklichen Jugend über die
Seele des Helvetischen Epictets ausgeübt haben müsse.
Ohne Zweifel sind es Liebhaber von dieser Art, Saint

Preux
O 3

Fuͤnftes Buch, zehentes Capitel.
war, an ſich ſelbſt betrachtet die vollkommenſie Art von
Vergnuͤgungen in ſich ſchlieſſe, deren unſre Sinnen faͤ-
hig ſind; eine Wahrheit, welche, ungeachtet einer Art
von ſtillſchweigender Uebereinkunft, daß man ſie nicht
laut geſtehen wolle, von allen Voͤlkern und zu allen
Zeiten ſo allgemein anerkannt worden iſt, daß Car-
neades, Sextus, Cornelius Agrippa, und Bayle ſelbſt
ſich nicht getrauet haben, ſie in Zweifel zu ziehen. Ob
wir nun gleich nicht Muth genug beſizen, gegen einen
ſo ehrwuͤrdigen Beweis als das einhellige Gefuͤhl des
ganzen menſchlichen Geſchlechts abgiebt, oͤffentlich zu
behaupten, daß diejenigen Vergnuͤgungen der Liebe,
welche der Seele eigen ſind, den Vorzug vor jenen ha-
ben: So werden doch nicht wenige mit uns einſtimmig
ſeyn, daß ein Liebhaber, der ſelbſt eine Seele hat, im
Beſiz der ſchoͤnſten Statur von Fleiſch und Blut, die
man nur immer finden kan, ſelbſt jene von den neuern
Epicuraͤern ſo hoch geprieſene Wolluſt nur in einem ſehr
unvollkommnen Grade erfahren wuͤrde; und daß dieſe
allein von der Empfindung des Herzens jenen wunder-
baren Reiz erhalte, welcher immer fuͤr unausſprech-
lich gehalten worden iſt, biß Rouſſeau, der Stoiker,
ſich herabgelaſſen, ſie in dem fuͤnf und vierzigſten der
Briefe der neuen Heloiſe, in einer Vollkommenheit zu
ſchildern, welche ſehr deutlich beweißt, was fuͤr eine
begeiſternde Kraft die bloſſe halberloſchene Erinnerung
an die Erfahrungen ſeiner gluͤklichen Jugend uͤber die
Seele des Helvetiſchen Epictets ausgeuͤbt haben muͤſſe.
Ohne Zweifel ſind es Liebhaber von dieſer Art, Saint

Preux
O 3
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[213/0235] Fuͤnftes Buch, zehentes Capitel. war, an ſich ſelbſt betrachtet die vollkommenſie Art von Vergnuͤgungen in ſich ſchlieſſe, deren unſre Sinnen faͤ- hig ſind; eine Wahrheit, welche, ungeachtet einer Art von ſtillſchweigender Uebereinkunft, daß man ſie nicht laut geſtehen wolle, von allen Voͤlkern und zu allen Zeiten ſo allgemein anerkannt worden iſt, daß Car- neades, Sextus, Cornelius Agrippa, und Bayle ſelbſt ſich nicht getrauet haben, ſie in Zweifel zu ziehen. Ob wir nun gleich nicht Muth genug beſizen, gegen einen ſo ehrwuͤrdigen Beweis als das einhellige Gefuͤhl des ganzen menſchlichen Geſchlechts abgiebt, oͤffentlich zu behaupten, daß diejenigen Vergnuͤgungen der Liebe, welche der Seele eigen ſind, den Vorzug vor jenen ha- ben: So werden doch nicht wenige mit uns einſtimmig ſeyn, daß ein Liebhaber, der ſelbſt eine Seele hat, im Beſiz der ſchoͤnſten Statur von Fleiſch und Blut, die man nur immer finden kan, ſelbſt jene von den neuern Epicuraͤern ſo hoch geprieſene Wolluſt nur in einem ſehr unvollkommnen Grade erfahren wuͤrde; und daß dieſe allein von der Empfindung des Herzens jenen wunder- baren Reiz erhalte, welcher immer fuͤr unausſprech- lich gehalten worden iſt, biß Rouſſeau, der Stoiker, ſich herabgelaſſen, ſie in dem fuͤnf und vierzigſten der Briefe der neuen Heloiſe, in einer Vollkommenheit zu ſchildern, welche ſehr deutlich beweißt, was fuͤr eine begeiſternde Kraft die bloſſe halberloſchene Erinnerung an die Erfahrungen ſeiner gluͤklichen Jugend uͤber die Seele des Helvetiſchen Epictets ausgeuͤbt haben muͤſſe. Ohne Zweifel ſind es Liebhaber von dieſer Art, Saint Preux O 3

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/235>, abgerufen am 24.11.2024.