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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Sechstes Buch, fünftes Capitel.
allen deinen Zügen hervor -- Du begreifst nicht,
nein, du begreifst nicht, was ich leide, dich traurig zu se-
hen, ohne die Ursache davon zu wissen. Wenn mein
Vermögen, wenn meine Liebe, wenn mein Leben selbst
hinlänglich ist, sie von dir zu entfernen, mein Gelieb-
ter, o! so verzögre keinen Augenblik, dein Jnnerstes
mir aufzuschliessen -- Der Ausdruk, die Blike, der
Ton der Stimme, womit sie dieses sagte, rührte den
gefühlvollen Agathon biß zu sprachloser Entzükung. Er
wand seine Arme um sie, drukte sein Gesicht auf ihre
klopfende Brust, und konnte lange nur durch die Thrä-
nen reden, womit er sie benezte.

Nichts ist anstekenders als der Affeet einer in Em-
pfindung zerfliessenden Seele. Danae, ohne die Ursach
aller dieser Bewegungen zu wissen, wurde so sehr von
dem Zustand gerührt, worinn sie ihren Liebhaber sah,
daß sie eben so sprachloß als er selbst, sympathetische
Thränen mit den Seinigen vermischte. Diese Scene,
welche für den gleichgültigen Leser nicht so interessant
seyn kan, als sie es für unsre Verliebten war, dauerte
eine ziemliche Weile. Endlich faßte sich Agathon, und
sagte in einer von diesen zärtlichen Ergiessungen der
Seele, an welchen die Ueberlegung keinen Antheil hat,
und worinn man keine andre Absicht hat als ein volles
Herz zu erleichtern: Jch liebe dich zu sehr, unver-
gleichliche Danae, und fühle zu sehr, daß ich dich
nicht genug lieben kan, um dir länger zu verhelen, wer
dieser Callias ist, den du, ohne ihn zu kennen, deines

Herzens

Sechstes Buch, fuͤnftes Capitel.
allen deinen Zuͤgen hervor — Du begreifſt nicht,
nein, du begreifſt nicht, was ich leide, dich traurig zu ſe-
hen, ohne die Urſache davon zu wiſſen. Wenn mein
Vermoͤgen, wenn meine Liebe, wenn mein Leben ſelbſt
hinlaͤnglich iſt, ſie von dir zu entfernen, mein Gelieb-
ter, o! ſo verzoͤgre keinen Augenblik, dein Jnnerſtes
mir aufzuſchlieſſen — Der Ausdruk, die Blike, der
Ton der Stimme, womit ſie dieſes ſagte, ruͤhrte den
gefuͤhlvollen Agathon biß zu ſprachloſer Entzuͤkung. Er
wand ſeine Arme um ſie, drukte ſein Geſicht auf ihre
klopfende Bruſt, und konnte lange nur durch die Thraͤ-
nen reden, womit er ſie benezte.

Nichts iſt anſtekenders als der Affeet einer in Em-
pfindung zerflieſſenden Seele. Danae, ohne die Urſach
aller dieſer Bewegungen zu wiſſen, wurde ſo ſehr von
dem Zuſtand geruͤhrt, worinn ſie ihren Liebhaber ſah,
daß ſie eben ſo ſprachloß als er ſelbſt, ſympathetiſche
Thraͤnen mit den Seinigen vermiſchte. Dieſe Scene,
welche fuͤr den gleichguͤltigen Leſer nicht ſo intereſſant
ſeyn kan, als ſie es fuͤr unſre Verliebten war, dauerte
eine ziemliche Weile. Endlich faßte ſich Agathon, und
ſagte in einer von dieſen zaͤrtlichen Ergieſſungen der
Seele, an welchen die Ueberlegung keinen Antheil hat,
und worinn man keine andre Abſicht hat als ein volles
Herz zu erleichtern: Jch liebe dich zu ſehr, unver-
gleichliche Danae, und fuͤhle zu ſehr, daß ich dich
nicht genug lieben kan, um dir laͤnger zu verhelen, wer
dieſer Callias iſt, den du, ohne ihn zu kennen, deines

Herzens
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[255/0277] Sechstes Buch, fuͤnftes Capitel. allen deinen Zuͤgen hervor — Du begreifſt nicht, nein, du begreifſt nicht, was ich leide, dich traurig zu ſe- hen, ohne die Urſache davon zu wiſſen. Wenn mein Vermoͤgen, wenn meine Liebe, wenn mein Leben ſelbſt hinlaͤnglich iſt, ſie von dir zu entfernen, mein Gelieb- ter, o! ſo verzoͤgre keinen Augenblik, dein Jnnerſtes mir aufzuſchlieſſen — Der Ausdruk, die Blike, der Ton der Stimme, womit ſie dieſes ſagte, ruͤhrte den gefuͤhlvollen Agathon biß zu ſprachloſer Entzuͤkung. Er wand ſeine Arme um ſie, drukte ſein Geſicht auf ihre klopfende Bruſt, und konnte lange nur durch die Thraͤ- nen reden, womit er ſie benezte. Nichts iſt anſtekenders als der Affeet einer in Em- pfindung zerflieſſenden Seele. Danae, ohne die Urſach aller dieſer Bewegungen zu wiſſen, wurde ſo ſehr von dem Zuſtand geruͤhrt, worinn ſie ihren Liebhaber ſah, daß ſie eben ſo ſprachloß als er ſelbſt, ſympathetiſche Thraͤnen mit den Seinigen vermiſchte. Dieſe Scene, welche fuͤr den gleichguͤltigen Leſer nicht ſo intereſſant ſeyn kan, als ſie es fuͤr unſre Verliebten war, dauerte eine ziemliche Weile. Endlich faßte ſich Agathon, und ſagte in einer von dieſen zaͤrtlichen Ergieſſungen der Seele, an welchen die Ueberlegung keinen Antheil hat, und worinn man keine andre Abſicht hat als ein volles Herz zu erleichtern: Jch liebe dich zu ſehr, unver- gleichliche Danae, und fuͤhle zu ſehr, daß ich dich nicht genug lieben kan, um dir laͤnger zu verhelen, wer dieſer Callias iſt, den du, ohne ihn zu kennen, deines Herzens

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/277>, abgerufen am 24.11.2024.