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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

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Agathon.
stüzten Verführung nicht umsonst gehabt zu haben. Jch
verwieß ihm seine Boßheit mit einem Zorne, der mich
stark genug machte, mich von ihm loszureissen. Des
folgenden Tags hatte er die Unverschämtheit, die prie-
sterlichen Verrichtungen mit eben der heuchlerischen An-
dacht fortzusezen, womit er mich und jeden andern
bisher hintergangen hatte. Er ließ nicht die geringste
Veränderung in seinem Betragen gegen mich merken,
und schien sich des Vergangenen eben so wenig zu er-
innern, als ob er den ganzen Lethe ausgetrunken hätte.
Diese Aufführung vermehrte meine Unruhe sehr; ich
konnte noch nicht begreiffen, daß es Leute geben könne,
welche, mitten in den Ausschweiffungen des Lasters,
Ruhe und Heiterkeit, die natürlichen Gefährten der
Unschuld, beyzubehalten wissen. Allein in weniger
Zeit darauf befreyte mich die Unvorsichtigkeit dieses Be-
trügers von den Besorgnissen, worinn ich seit der Ge-
schichte in der Grotte geschwebet hatte. Theogiton
verschwand aus Delphi, ohne daß man die eigentliche
Ursache davon erfuhr. Aus dem, was man sich in
die Ohren murmelte, errieth ich, daß Apollo endlich
überdrüssig geworden seyn möchte, seine Person von ei-
nem andern spielen zu lassen. Einer von unsern Kna-
ben, der ein Verwandter des Ober-Priesters war,
hatte (wie man sagte) den Anlas dazu gegeben.

Diese Begebenheiten führten mich natürlicher Weise
auf viele neue Betrachtungen; aber meine Neigung
zum Wunderbaren und meine Lieblings-Jdeen verloren

nichts

Agathon.
ſtuͤzten Verfuͤhrung nicht umſonſt gehabt zu haben. Jch
verwieß ihm ſeine Boßheit mit einem Zorne, der mich
ſtark genug machte, mich von ihm loszureiſſen. Des
folgenden Tags hatte er die Unverſchaͤmtheit, die prie-
ſterlichen Verrichtungen mit eben der heuchleriſchen An-
dacht fortzuſezen, womit er mich und jeden andern
bisher hintergangen hatte. Er ließ nicht die geringſte
Veraͤnderung in ſeinem Betragen gegen mich merken,
und ſchien ſich des Vergangenen eben ſo wenig zu er-
innern, als ob er den ganzen Lethe ausgetrunken haͤtte.
Dieſe Auffuͤhrung vermehrte meine Unruhe ſehr; ich
konnte noch nicht begreiffen, daß es Leute geben koͤnne,
welche, mitten in den Ausſchweiffungen des Laſters,
Ruhe und Heiterkeit, die natuͤrlichen Gefaͤhrten der
Unſchuld, beyzubehalten wiſſen. Allein in weniger
Zeit darauf befreyte mich die Unvorſichtigkeit dieſes Be-
truͤgers von den Beſorgniſſen, worinn ich ſeit der Ge-
ſchichte in der Grotte geſchwebet hatte. Theogiton
verſchwand aus Delphi, ohne daß man die eigentliche
Urſache davon erfuhr. Aus dem, was man ſich in
die Ohren murmelte, errieth ich, daß Apollo endlich
uͤberdruͤſſig geworden ſeyn moͤchte, ſeine Perſon von ei-
nem andern ſpielen zu laſſen. Einer von unſern Kna-
ben, der ein Verwandter des Ober-Prieſters war,
hatte (wie man ſagte) den Anlas dazu gegeben.

Dieſe Begebenheiten fuͤhrten mich natuͤrlicher Weiſe
auf viele neue Betrachtungen; aber meine Neigung
zum Wunderbaren und meine Lieblings-Jdeen verloren

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[274/0296] Agathon. ſtuͤzten Verfuͤhrung nicht umſonſt gehabt zu haben. Jch verwieß ihm ſeine Boßheit mit einem Zorne, der mich ſtark genug machte, mich von ihm loszureiſſen. Des folgenden Tags hatte er die Unverſchaͤmtheit, die prie- ſterlichen Verrichtungen mit eben der heuchleriſchen An- dacht fortzuſezen, womit er mich und jeden andern bisher hintergangen hatte. Er ließ nicht die geringſte Veraͤnderung in ſeinem Betragen gegen mich merken, und ſchien ſich des Vergangenen eben ſo wenig zu er- innern, als ob er den ganzen Lethe ausgetrunken haͤtte. Dieſe Auffuͤhrung vermehrte meine Unruhe ſehr; ich konnte noch nicht begreiffen, daß es Leute geben koͤnne, welche, mitten in den Ausſchweiffungen des Laſters, Ruhe und Heiterkeit, die natuͤrlichen Gefaͤhrten der Unſchuld, beyzubehalten wiſſen. Allein in weniger Zeit darauf befreyte mich die Unvorſichtigkeit dieſes Be- truͤgers von den Beſorgniſſen, worinn ich ſeit der Ge- ſchichte in der Grotte geſchwebet hatte. Theogiton verſchwand aus Delphi, ohne daß man die eigentliche Urſache davon erfuhr. Aus dem, was man ſich in die Ohren murmelte, errieth ich, daß Apollo endlich uͤberdruͤſſig geworden ſeyn moͤchte, ſeine Perſon von ei- nem andern ſpielen zu laſſen. Einer von unſern Kna- ben, der ein Verwandter des Ober-Prieſters war, hatte (wie man ſagte) den Anlas dazu gegeben. Dieſe Begebenheiten fuͤhrten mich natuͤrlicher Weiſe auf viele neue Betrachtungen; aber meine Neigung zum Wunderbaren und meine Lieblings-Jdeen verloren nichts

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/296>, abgerufen am 24.11.2024.