Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite

Agathon.
nen Geheimnisse meiner dichterischen Philosophie entfal-
tete, glaubte den göttlichen Orpheus oder den Apollo
selbst zu hören, wenn ich sprach. Es ist in der Natur
der Liebe (so zärtlich und uncörperlich sie immer seyn
mag) so lange zuzunehmen, bis sie das Ziel erreicht
hat, wo die Natur sie zu erwarten scheint. Die unsrige
nahm auch zu, und gieng nach und nach durch mehr
als eine Verwandlung; aber sie blieb sich selbst doch
immer ähnlich. Nachdem uns der Name der Freund-
schaft nicht mehr bedeutend genug schien, dasjenige,
was wir für einander empfanden, auszudrüken, wur-
den wir eins, daß unter allen Zuneigungen, derer uns
die Natur fähig mache, die Liebe eines Bruders und
einer Schwester zugleich die stärkste und die reineste sey.
Die Vorstellung, die wir uns davon machten, ent-
zükte uns; und nachdem wir oft bedauert hatten, daß
uns die Natur diese Glükseligkeit versagt habe, wun-
derten wir uns zulezt, wie wir nicht bälder eingesehen
hätten, daß es nur von uns abhange, ihre Kargheit
in diesem Stüke zu ersezen. Wir waren also Bruder und
Schwester, und blieben es einige Zeit, ohne daß die
Vertraulichkeit und die unschuldigen Liebkosungen, wozu
uns diese Namen berechtigten, in unsern Augen wenig-
stens, der Tugend, welcher wir zugleich mit der Liebe
eine ewige Treue geschworen hatten, den geringsten Ab-
bruch thaten. Wir waren enthusiastisch genug, die
Vermuthung oder vielmehr die blosse Möglichkeit, ein-
ander vielleicht so nahe verwandt zu seyn, als wir
wünschten, in den zärtlichen Ergiessungen unserer Her-

zen

Agathon.
nen Geheimniſſe meiner dichteriſchen Philoſophie entfal-
tete, glaubte den goͤttlichen Orpheus oder den Apollo
ſelbſt zu hoͤren, wenn ich ſprach. Es iſt in der Natur
der Liebe (ſo zaͤrtlich und uncoͤrperlich ſie immer ſeyn
mag) ſo lange zuzunehmen, bis ſie das Ziel erreicht
hat, wo die Natur ſie zu erwarten ſcheint. Die unſrige
nahm auch zu, und gieng nach und nach durch mehr
als eine Verwandlung; aber ſie blieb ſich ſelbſt doch
immer aͤhnlich. Nachdem uns der Name der Freund-
ſchaft nicht mehr bedeutend genug ſchien, dasjenige,
was wir fuͤr einander empfanden, auszudruͤken, wur-
den wir eins, daß unter allen Zuneigungen, derer uns
die Natur faͤhig mache, die Liebe eines Bruders und
einer Schweſter zugleich die ſtaͤrkſte und die reineſte ſey.
Die Vorſtellung, die wir uns davon machten, ent-
zuͤkte uns; und nachdem wir oft bedauert hatten, daß
uns die Natur dieſe Gluͤkſeligkeit verſagt habe, wun-
derten wir uns zulezt, wie wir nicht baͤlder eingeſehen
haͤtten, daß es nur von uns abhange, ihre Kargheit
in dieſem Stuͤke zu erſezen. Wir waren alſo Bruder und
Schweſter, und blieben es einige Zeit, ohne daß die
Vertraulichkeit und die unſchuldigen Liebkoſungen, wozu
uns dieſe Namen berechtigten, in unſern Augen wenig-
ſtens, der Tugend, welcher wir zugleich mit der Liebe
eine ewige Treue geſchworen hatten, den geringſten Ab-
bruch thaten. Wir waren enthuſiaſtiſch genug, die
Vermuthung oder vielmehr die bloſſe Moͤglichkeit, ein-
ander vielleicht ſo nahe verwandt zu ſeyn, als wir
wuͤnſchten, in den zaͤrtlichen Ergieſſungen unſerer Her-

zen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0324" n="302"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
nen Geheimni&#x017F;&#x017F;e meiner dichteri&#x017F;chen Philo&#x017F;ophie entfal-<lb/>
tete, glaubte den go&#x0364;ttlichen Orpheus oder den Apollo<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t zu ho&#x0364;ren, wenn ich &#x017F;prach. Es i&#x017F;t in der Natur<lb/>
der Liebe (&#x017F;o za&#x0364;rtlich und unco&#x0364;rperlich &#x017F;ie immer &#x017F;eyn<lb/>
mag) &#x017F;o lange zuzunehmen, bis &#x017F;ie das Ziel erreicht<lb/>
hat, wo die Natur &#x017F;ie zu erwarten &#x017F;cheint. Die un&#x017F;rige<lb/>
nahm auch zu, und gieng nach und nach durch mehr<lb/>
als eine Verwandlung; aber &#x017F;ie blieb &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t doch<lb/>
immer a&#x0364;hnlich. Nachdem uns der Name der Freund-<lb/>
&#x017F;chaft nicht mehr bedeutend genug &#x017F;chien, dasjenige,<lb/>
was wir fu&#x0364;r einander empfanden, auszudru&#x0364;ken, wur-<lb/>
den wir eins, daß unter allen Zuneigungen, derer uns<lb/>
die Natur fa&#x0364;hig mache, die Liebe eines Bruders und<lb/>
einer Schwe&#x017F;ter zugleich die &#x017F;ta&#x0364;rk&#x017F;te und die reine&#x017F;te &#x017F;ey.<lb/>
Die Vor&#x017F;tellung, die wir uns davon machten, ent-<lb/>
zu&#x0364;kte uns; und nachdem wir oft bedauert hatten, daß<lb/>
uns die Natur die&#x017F;e Glu&#x0364;k&#x017F;eligkeit ver&#x017F;agt habe, wun-<lb/>
derten wir uns zulezt, wie wir nicht ba&#x0364;lder einge&#x017F;ehen<lb/>
ha&#x0364;tten, daß es nur von uns abhange, ihre Kargheit<lb/>
in die&#x017F;em Stu&#x0364;ke zu er&#x017F;ezen. Wir waren al&#x017F;o Bruder und<lb/>
Schwe&#x017F;ter, und blieben es einige Zeit, ohne daß die<lb/>
Vertraulichkeit und die un&#x017F;chuldigen Liebko&#x017F;ungen, wozu<lb/>
uns die&#x017F;e Namen berechtigten, in un&#x017F;ern Augen wenig-<lb/>
&#x017F;tens, der Tugend, welcher wir zugleich mit der Liebe<lb/>
eine ewige Treue ge&#x017F;chworen hatten, den gering&#x017F;ten Ab-<lb/>
bruch thaten. Wir waren enthu&#x017F;ia&#x017F;ti&#x017F;ch genug, die<lb/>
Vermuthung oder vielmehr die blo&#x017F;&#x017F;e Mo&#x0364;glichkeit, ein-<lb/>
ander vielleicht &#x017F;o nahe verwandt zu &#x017F;eyn, als wir<lb/>
wu&#x0364;n&#x017F;chten, in den za&#x0364;rtlichen Ergie&#x017F;&#x017F;ungen un&#x017F;erer Her-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">zen</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[302/0324] Agathon. nen Geheimniſſe meiner dichteriſchen Philoſophie entfal- tete, glaubte den goͤttlichen Orpheus oder den Apollo ſelbſt zu hoͤren, wenn ich ſprach. Es iſt in der Natur der Liebe (ſo zaͤrtlich und uncoͤrperlich ſie immer ſeyn mag) ſo lange zuzunehmen, bis ſie das Ziel erreicht hat, wo die Natur ſie zu erwarten ſcheint. Die unſrige nahm auch zu, und gieng nach und nach durch mehr als eine Verwandlung; aber ſie blieb ſich ſelbſt doch immer aͤhnlich. Nachdem uns der Name der Freund- ſchaft nicht mehr bedeutend genug ſchien, dasjenige, was wir fuͤr einander empfanden, auszudruͤken, wur- den wir eins, daß unter allen Zuneigungen, derer uns die Natur faͤhig mache, die Liebe eines Bruders und einer Schweſter zugleich die ſtaͤrkſte und die reineſte ſey. Die Vorſtellung, die wir uns davon machten, ent- zuͤkte uns; und nachdem wir oft bedauert hatten, daß uns die Natur dieſe Gluͤkſeligkeit verſagt habe, wun- derten wir uns zulezt, wie wir nicht baͤlder eingeſehen haͤtten, daß es nur von uns abhange, ihre Kargheit in dieſem Stuͤke zu erſezen. Wir waren alſo Bruder und Schweſter, und blieben es einige Zeit, ohne daß die Vertraulichkeit und die unſchuldigen Liebkoſungen, wozu uns dieſe Namen berechtigten, in unſern Augen wenig- ſtens, der Tugend, welcher wir zugleich mit der Liebe eine ewige Treue geſchworen hatten, den geringſten Ab- bruch thaten. Wir waren enthuſiaſtiſch genug, die Vermuthung oder vielmehr die bloſſe Moͤglichkeit, ein- ander vielleicht ſo nahe verwandt zu ſeyn, als wir wuͤnſchten, in den zaͤrtlichen Ergieſſungen unſerer Her- zen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/324
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/324>, abgerufen am 24.11.2024.