Oder hat er uns die Sorge für uns selbst gänzlich über- lassen, warum sind wir keinen Augenblik unsers Zu- standes Meister? Warum vernichtet bald Nothwendig- keit, bald Zufall, die weisesten Entwürfe? --
Hier hielt Agathon eine Zeitlang inne; sein in Zweifeln verwikelter Geist arbeitete sich loszuwinden, biß ein neuer Blik auf die majestätische Natur die ihn umgab, eine andre Reyhe von Vorstellungen in ihm entwikelte. -- Was sind, fuhr er mit sich selbst fort, meine Zweifel anders, als Eingebungen der eigennützi- gen Leidenschaft? Wer war diesen Morgen glüklicher als ich? Alles war Wollust und Wonne um mich her. Hat sich die Natur binnen dieser Zeit verändert, oder ist sie minder der Schauplaz einer grenzenlosen Voll- kommenheit, weil Agathon ein Sclave, und von Psyche getrennet ist? Schäme dich, Kleinmüthiger, deiner trübsinnigen Zweifel, und deiner unmännlichen Klagen! Wie kanst du Verlust nennen, dessen Besiz kein Gut war? Jst es ein Uebel, deines Ansehens, deines Ver- mögens, deines Vaterlandes beraubt zu seyn? Alles dessen beraubt warst du in Delphi glüklich, und vermis- kest es nicht. Und warum nennest du Dinge dein, die nicht zu dir selbst gehören, die der Zufall giebt und nimmt, ohne daß es in deiner Willkühr steht sie zu er- langen oder zu erhalten? Wie ruhig, wie heiter und glüklich sloß mein Leben in Delphi hin, ehe ich die Welt, ihre Geschäfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und ihre Abwechselungen kannte; eh ich genöthiget war,
mit
Agathon.
Oder hat er uns die Sorge fuͤr uns ſelbſt gaͤnzlich uͤber- laſſen, warum ſind wir keinen Augenblik unſers Zu- ſtandes Meiſter? Warum vernichtet bald Nothwendig- keit, bald Zufall, die weiſeſten Entwuͤrfe? ‒‒
Hier hielt Agathon eine Zeitlang inne; ſein in Zweifeln verwikelter Geiſt arbeitete ſich loszuwinden, biß ein neuer Blik auf die majeſtaͤtiſche Natur die ihn umgab, eine andre Reyhe von Vorſtellungen in ihm entwikelte. ‒‒ Was ſind, fuhr er mit ſich ſelbſt fort, meine Zweifel anders, als Eingebungen der eigennuͤtzi- gen Leidenſchaft? Wer war dieſen Morgen gluͤklicher als ich? Alles war Wolluſt und Wonne um mich her. Hat ſich die Natur binnen dieſer Zeit veraͤndert, oder iſt ſie minder der Schauplaz einer grenzenloſen Voll- kommenheit, weil Agathon ein Sclave, und von Pſyche getrennet iſt? Schaͤme dich, Kleinmuͤthiger, deiner truͤbſinnigen Zweifel, und deiner unmaͤnnlichen Klagen! Wie kanſt du Verluſt nennen, deſſen Beſiz kein Gut war? Jſt es ein Uebel, deines Anſehens, deines Ver- moͤgens, deines Vaterlandes beraubt zu ſeyn? Alles deſſen beraubt warſt du in Delphi gluͤklich, und vermiſ- keſt es nicht. Und warum nenneſt du Dinge dein, die nicht zu dir ſelbſt gehoͤren, die der Zufall giebt und nimmt, ohne daß es in deiner Willkuͤhr ſteht ſie zu er- langen oder zu erhalten? Wie ruhig, wie heiter und gluͤklich ſloß mein Leben in Delphi hin, ehe ich die Welt, ihre Geſchaͤfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und ihre Abwechſelungen kannte; eh ich genoͤthiget war,
mit
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0054"n="32"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
Oder hat er uns die Sorge fuͤr uns ſelbſt gaͤnzlich uͤber-<lb/>
laſſen, warum ſind wir keinen Augenblik unſers Zu-<lb/>ſtandes Meiſter? Warum vernichtet bald Nothwendig-<lb/>
keit, bald Zufall, die weiſeſten Entwuͤrfe? ‒‒</p><lb/><p>Hier hielt Agathon eine Zeitlang inne; ſein in<lb/>
Zweifeln verwikelter Geiſt arbeitete ſich loszuwinden,<lb/>
biß ein neuer Blik auf die majeſtaͤtiſche Natur die ihn<lb/>
umgab, eine andre Reyhe von Vorſtellungen in ihm<lb/>
entwikelte. ‒‒ Was ſind, fuhr er mit ſich ſelbſt fort,<lb/>
meine Zweifel anders, als Eingebungen der eigennuͤtzi-<lb/>
gen Leidenſchaft? Wer war dieſen Morgen gluͤklicher<lb/>
als ich? Alles war Wolluſt und Wonne um mich her.<lb/>
Hat ſich die Natur binnen dieſer Zeit veraͤndert, oder<lb/>
iſt ſie minder der Schauplaz einer grenzenloſen Voll-<lb/>
kommenheit, weil Agathon ein Sclave, und von Pſyche<lb/>
getrennet iſt? Schaͤme dich, Kleinmuͤthiger, deiner<lb/>
truͤbſinnigen Zweifel, und deiner unmaͤnnlichen Klagen!<lb/>
Wie kanſt du Verluſt nennen, deſſen Beſiz kein Gut<lb/>
war? Jſt es ein Uebel, deines Anſehens, deines Ver-<lb/>
moͤgens, deines Vaterlandes beraubt zu ſeyn? Alles<lb/>
deſſen beraubt warſt du in Delphi gluͤklich, und vermiſ-<lb/>
keſt es nicht. Und warum nenneſt du Dinge dein, die<lb/>
nicht zu dir ſelbſt gehoͤren, die der Zufall giebt und<lb/>
nimmt, ohne daß es in deiner Willkuͤhr ſteht ſie zu er-<lb/>
langen oder zu erhalten? Wie ruhig, wie heiter und<lb/>
gluͤklich ſloß mein Leben in Delphi hin, ehe ich die<lb/>
Welt, ihre Geſchaͤfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und<lb/>
ihre Abwechſelungen kannte; eh ich genoͤthiget war,<lb/><fwplace="bottom"type="catch">mit</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[32/0054]
Agathon.
Oder hat er uns die Sorge fuͤr uns ſelbſt gaͤnzlich uͤber-
laſſen, warum ſind wir keinen Augenblik unſers Zu-
ſtandes Meiſter? Warum vernichtet bald Nothwendig-
keit, bald Zufall, die weiſeſten Entwuͤrfe? ‒‒
Hier hielt Agathon eine Zeitlang inne; ſein in
Zweifeln verwikelter Geiſt arbeitete ſich loszuwinden,
biß ein neuer Blik auf die majeſtaͤtiſche Natur die ihn
umgab, eine andre Reyhe von Vorſtellungen in ihm
entwikelte. ‒‒ Was ſind, fuhr er mit ſich ſelbſt fort,
meine Zweifel anders, als Eingebungen der eigennuͤtzi-
gen Leidenſchaft? Wer war dieſen Morgen gluͤklicher
als ich? Alles war Wolluſt und Wonne um mich her.
Hat ſich die Natur binnen dieſer Zeit veraͤndert, oder
iſt ſie minder der Schauplaz einer grenzenloſen Voll-
kommenheit, weil Agathon ein Sclave, und von Pſyche
getrennet iſt? Schaͤme dich, Kleinmuͤthiger, deiner
truͤbſinnigen Zweifel, und deiner unmaͤnnlichen Klagen!
Wie kanſt du Verluſt nennen, deſſen Beſiz kein Gut
war? Jſt es ein Uebel, deines Anſehens, deines Ver-
moͤgens, deines Vaterlandes beraubt zu ſeyn? Alles
deſſen beraubt warſt du in Delphi gluͤklich, und vermiſ-
keſt es nicht. Und warum nenneſt du Dinge dein, die
nicht zu dir ſelbſt gehoͤren, die der Zufall giebt und
nimmt, ohne daß es in deiner Willkuͤhr ſteht ſie zu er-
langen oder zu erhalten? Wie ruhig, wie heiter und
gluͤklich ſloß mein Leben in Delphi hin, ehe ich die
Welt, ihre Geſchaͤfte, ihre Sorgen, ihre Freuden und
ihre Abwechſelungen kannte; eh ich genoͤthiget war,
mit
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/54>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.