Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.Agathon, weil er sich von der Beredsamkeit desselben diejenigeArt von Ergözung versprach, die uns ein geschikter Gaukler macht, der uns einen Augenblik sehen läßt, was wir nicht sehen, ohne es bey einem klugen Men- schen so weit zu bringen, daß man in eben demselben Augenblik nur daran zweifeln sollte, daß man betrogen wird. Mit einer Gemüthsverfassung, die so wenig von der Gelehrigkeit hatte, welche Hippias foderte, fand sich Agathon ein, als er nach Verfluß einiger Tage an einem Morgen in das Zimmer des Sophisten gerufen wurde, welcher auf einem Ruhbette liegend seiner er- wartete, und ihm befahl sich neben ihm niederzusezen und das Frühstük mit ihm zu nehmen. Diese Höflich- keit war nach der Absicht des weisen Hippias eine Vor- bereitung, und er hatte, um die Würkung derselben zu befordern, das schönste Mädchen in seinem Hause ausersehen, sie hiebey zu bedienen. Jn der That die Gestalt dieser Nymphe, und die gute Art womit sie ihr Amt versah, machten ihre Aufwartung für einen Wei- sen von Agathons Alter ein wenig beunruhigend. Das schlimmste war, daß die kleine Hexe, um sich we- gen der Gleichgültigkeit zu rächen, womit Agathon ihre zuvorkommende Gütigkeit bisher vernachläßiget hatte, keinen von den Kunstgriffen verabsäumte, wodurch sie den Werth des von ihm verscherzten Glükes empfind- licher zu machen glaubte. Sie hatte die Bosheit ge- habt, sich in einem so niedlichen, so sittsamen und doch so verführerischen Morgen-Anzug darzustellen, daß Agathon sich nicht verhindern konnte zu denken, die Gra-
Agathon, weil er ſich von der Beredſamkeit deſſelben diejenigeArt von Ergoͤzung verſprach, die uns ein geſchikter Gaukler macht, der uns einen Augenblik ſehen laͤßt, was wir nicht ſehen, ohne es bey einem klugen Men- ſchen ſo weit zu bringen, daß man in eben demſelben Augenblik nur daran zweifeln ſollte, daß man betrogen wird. Mit einer Gemuͤthsverfaſſung, die ſo wenig von der Gelehrigkeit hatte, welche Hippias foderte, fand ſich Agathon ein, als er nach Verfluß einiger Tage an einem Morgen in das Zimmer des Sophiſten gerufen wurde, welcher auf einem Ruhbette liegend ſeiner er- wartete, und ihm befahl ſich neben ihm niederzuſezen und das Fruͤhſtuͤk mit ihm zu nehmen. Dieſe Hoͤflich- keit war nach der Abſicht des weiſen Hippias eine Vor- bereitung, und er hatte, um die Wuͤrkung derſelben zu befordern, das ſchoͤnſte Maͤdchen in ſeinem Hauſe auserſehen, ſie hiebey zu bedienen. Jn der That die Geſtalt dieſer Nymphe, und die gute Art womit ſie ihr Amt verſah, machten ihre Aufwartung fuͤr einen Wei- ſen von Agathons Alter ein wenig beunruhigend. Das ſchlimmſte war, daß die kleine Hexe, um ſich we- gen der Gleichguͤltigkeit zu raͤchen, womit Agathon ihre zuvorkommende Guͤtigkeit bisher vernachlaͤßiget hatte, keinen von den Kunſtgriffen verabſaͤumte, wodurch ſie den Werth des von ihm verſcherzten Gluͤkes empfind- licher zu machen glaubte. Sie hatte die Bosheit ge- habt, ſich in einem ſo niedlichen, ſo ſittſamen und doch ſo verfuͤhreriſchen Morgen-Anzug darzuſtellen, daß Agathon ſich nicht verhindern konnte zu denken, die Gra-
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Agathon,
weil er ſich von der Beredſamkeit deſſelben diejenige
Art von Ergoͤzung verſprach, die uns ein geſchikter
Gaukler macht, der uns einen Augenblik ſehen laͤßt,
was wir nicht ſehen, ohne es bey einem klugen Men-
ſchen ſo weit zu bringen, daß man in eben demſelben
Augenblik nur daran zweifeln ſollte, daß man betrogen
wird. Mit einer Gemuͤthsverfaſſung, die ſo wenig von
der Gelehrigkeit hatte, welche Hippias foderte, fand
ſich Agathon ein, als er nach Verfluß einiger Tage an
einem Morgen in das Zimmer des Sophiſten gerufen
wurde, welcher auf einem Ruhbette liegend ſeiner er-
wartete, und ihm befahl ſich neben ihm niederzuſezen
und das Fruͤhſtuͤk mit ihm zu nehmen. Dieſe Hoͤflich-
keit war nach der Abſicht des weiſen Hippias eine Vor-
bereitung, und er hatte, um die Wuͤrkung derſelben
zu befordern, das ſchoͤnſte Maͤdchen in ſeinem Hauſe
auserſehen, ſie hiebey zu bedienen. Jn der That die
Geſtalt dieſer Nymphe, und die gute Art womit ſie ihr
Amt verſah, machten ihre Aufwartung fuͤr einen Wei-
ſen von Agathons Alter ein wenig beunruhigend.
Das ſchlimmſte war, daß die kleine Hexe, um ſich we-
gen der Gleichguͤltigkeit zu raͤchen, womit Agathon ihre
zuvorkommende Guͤtigkeit bisher vernachlaͤßiget hatte,
keinen von den Kunſtgriffen verabſaͤumte, wodurch ſie
den Werth des von ihm verſcherzten Gluͤkes empfind-
licher zu machen glaubte. Sie hatte die Bosheit ge-
habt, ſich in einem ſo niedlichen, ſo ſittſamen und doch
ſo verfuͤhreriſchen Morgen-Anzug darzuſtellen, daß
Agathon ſich nicht verhindern konnte zu denken, die
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Zitationshilfe: | Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/96>, abgerufen am 16.02.2025. |