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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767.

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Neuntes Buch, drittes Capitel.
Betragen übertraf alles, was sich Dion von ihm ver-
sprochen hatte. Ganz Syracus empfand sogleich die
Würkungen dieser glüklichen Veränderung. Er gieng
mit einer unglaublichen Behendigkeit von dem höchsten
Grade des tyrannischen Uebermuths zu der Popularität
eines Atheniensischen Archonten über; sezte alle Tage
einige Stunden aus, um jedermann mit einnehmen-
der Leutseligkeit anzuhören, nannte sie Mitbürger,
wünschte sie alle glüklich machen zu können; machte würk-
lich den Anfang, verschiedene gute Anordnungen zu ver-
anstalten, und erwekte durch so viele günstige Vorzei-
chen die allgemeine Erwartung einer glükseligen Revo-
lution, welche nun auf einmal der Gegenstand aller
Wünsche, und der Jnhalt aller Gespräche unter dem
Volke wurde.

Es könnte genug seyn, gegen diejenige, die eine so
grosse und schnelle Verwandlung eines Prinzen, den
wir für ein kleines Ungeheuer von Lastern und Aus-
schweifungen gegeben haben, unglaublich vorkommen
möchte, uns auf die einhellige Aussage der Geschicht-
schreiber zu beruffen; aber wir können noch mehr thun;
es ist leicht, die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit der-
selben begreiflich zu machen. Aufmerksame Leser,
welche einige Kenntniß des menschlichen Herzens haben,
werden die Gründe hierzu in unsrer bißherigen Erzäh-
lung schon von selbsten entdekt haben. Jn einem Ge-
müths-Zustande, worinn die Leidenschaften schweigen,
wo uns vor den Ergözungen der Sinne ekelt, und der

Mangel
[Agath. II. Th.] H

Neuntes Buch, drittes Capitel.
Betragen uͤbertraf alles, was ſich Dion von ihm ver-
ſprochen hatte. Ganz Syracus empfand ſogleich die
Wuͤrkungen dieſer gluͤklichen Veraͤnderung. Er gieng
mit einer unglaublichen Behendigkeit von dem hoͤchſten
Grade des tyranniſchen Uebermuths zu der Popularitaͤt
eines Athenienſiſchen Archonten uͤber; ſezte alle Tage
einige Stunden aus, um jedermann mit einnehmen-
der Leutſeligkeit anzuhoͤren, nannte ſie Mitbuͤrger,
wuͤnſchte ſie alle gluͤklich machen zu koͤnnen; machte wuͤrk-
lich den Anfang, verſchiedene gute Anordnungen zu ver-
anſtalten, und erwekte durch ſo viele guͤnſtige Vorzei-
chen die allgemeine Erwartung einer gluͤkſeligen Revo-
lution, welche nun auf einmal der Gegenſtand aller
Wuͤnſche, und der Jnhalt aller Geſpraͤche unter dem
Volke wurde.

Es könnte genug ſeyn, gegen diejenige, die eine ſo
groſſe und ſchnelle Verwandlung eines Prinzen, den
wir fuͤr ein kleines Ungeheuer von Laſtern und Aus-
ſchweifungen gegeben haben, unglaublich vorkommen
moͤchte, uns auf die einhellige Auſſage der Geſchicht-
ſchreiber zu beruffen; aber wir koͤnnen noch mehr thun;
es iſt leicht, die Moͤglichkeit und Wahrſcheinlichkeit der-
ſelben begreiflich zu machen. Aufmerkſame Leſer,
welche einige Kenntniß des menſchlichen Herzens haben,
werden die Gruͤnde hierzu in unſrer bißherigen Erzaͤh-
lung ſchon von ſelbſten entdekt haben. Jn einem Ge-
muͤths-Zuſtande, worinn die Leidenſchaften ſchweigen,
wo uns vor den Ergoͤzungen der Sinne ekelt, und der

Mangel
[Agath. II. Th.] H
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[113/0115] Neuntes Buch, drittes Capitel. Betragen uͤbertraf alles, was ſich Dion von ihm ver- ſprochen hatte. Ganz Syracus empfand ſogleich die Wuͤrkungen dieſer gluͤklichen Veraͤnderung. Er gieng mit einer unglaublichen Behendigkeit von dem hoͤchſten Grade des tyranniſchen Uebermuths zu der Popularitaͤt eines Athenienſiſchen Archonten uͤber; ſezte alle Tage einige Stunden aus, um jedermann mit einnehmen- der Leutſeligkeit anzuhoͤren, nannte ſie Mitbuͤrger, wuͤnſchte ſie alle gluͤklich machen zu koͤnnen; machte wuͤrk- lich den Anfang, verſchiedene gute Anordnungen zu ver- anſtalten, und erwekte durch ſo viele guͤnſtige Vorzei- chen die allgemeine Erwartung einer gluͤkſeligen Revo- lution, welche nun auf einmal der Gegenſtand aller Wuͤnſche, und der Jnhalt aller Geſpraͤche unter dem Volke wurde. Es könnte genug ſeyn, gegen diejenige, die eine ſo groſſe und ſchnelle Verwandlung eines Prinzen, den wir fuͤr ein kleines Ungeheuer von Laſtern und Aus- ſchweifungen gegeben haben, unglaublich vorkommen moͤchte, uns auf die einhellige Auſſage der Geſchicht- ſchreiber zu beruffen; aber wir koͤnnen noch mehr thun; es iſt leicht, die Moͤglichkeit und Wahrſcheinlichkeit der- ſelben begreiflich zu machen. Aufmerkſame Leſer, welche einige Kenntniß des menſchlichen Herzens haben, werden die Gruͤnde hierzu in unſrer bißherigen Erzaͤh- lung ſchon von ſelbſten entdekt haben. Jn einem Ge- muͤths-Zuſtande, worinn die Leidenſchaften ſchweigen, wo uns vor den Ergoͤzungen der Sinne ekelt, und der Mangel [Agath. II. Th.] H

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Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/115>, abgerufen am 21.11.2024.